Heute habe ich mit einem etwas mulmigen Gefühl meinen nagelneuen Reisepass in einen braunen Umschlag geschoben und ihn per Einschreiben nach Erfurt geschickt.
Wenn man jahrzehntelang im Umfeld der EU gereist ist, meistens sowieso innerhalb, nur einige Tage in Istanbul waren so weit ich mich entsinne außerhalb des Schengenraumes, dann erübrigt sich irgendwann die Notwendigkeit eines Reisepasses. Mein alter Reisepass ist demnach am 01.05.2002 abgelaufen, ich habe ihn tatsächlich wiedergefunden, inklusive Einreisevisum in die USA, wo ich 1998 ein Auslandssemester absolviert habe, wofür dieser ganze Reisepass eigentlich erst beantragt und ausgefertigt wurde.
Seitdem war ich Mr. Personalausweis.
Jetzt, über 20 Jahre später, gehe ich durch den selben Prozess nur in die entgegengesetzte Richtung, und zwar geographisch und politisch. Vom 20. April ab bis etwa zum 11. Mai werde ich mich auf dem Gebiet der russischen Föderation aufhalten, und ja, das war im Vorfeld dieses Jahres raus von mir nie so geplant gewesen und ja, der Plan zu dieser Reise hat sich in einigen Tagen im Dezember relativ schnell entwickelt.
Auf Youtube kann man sich den ganzen Tag extrem viel Scheiß anschauen, wenn man im dunklen Winter ein wenig an die Wohnung gefesselt ist und auch nicht mal schnell auf die Malediven fliegen will, um da im Hotel-WLAN Youtube zu schauen. Manchmal findet man aber auch richtig spannende Sachen, so z.B. die Videos des jungen französchischen Forensikers Jean-Loup Gassend, der einige sehr berührende Videos über die Exhumierung vergessener Kriegstoter in Frankreich und auf dem Balkan online gestellt hat. Als Forensiker hat er auf die lehmigen Knochen, die da aus der Erde kommen, einen ganz anderen Blick, als irgendwelche rechtslastigen Militariasammler, die eine rostige MP viel spannender finden, als den Menschen, der sie benutzen musste. Und die auch zu Hauf auf Youtube ihr meinungsfreies Unwesen treiben.
Jean-Loup hatte auch eine Homepage verlinkt und auf der findet sich eine Kontaktadresse. In einem Anfall von Faszination schrieb ich ihn an, denn vieles schien da auf mein Profil zu passen: Lehrerheini in mittleren Jahren, seit einiger Zeit frankophil und weltkriegsbewegt, hat gerade viel Zeit und scheut auch nicht anstrengende Tage im Wald. Jean-Loup antwortete rasend schnell und sehr freundlich, er selber organisiere keine Suchen, könne mich aber, wenn ich wollte, gerne an eine Gruppe „White Searchers“ in der Region St. Petersburg vermitteln.
So kam ich an Iskender Yasaveyev.
Russlands Boden ist stellenweise vollgestopft mit den Resten des Zweiten Weltkriegs, auch mit menschlichen. Seit vielen Jahren ziehen sogenannte „Black Searchers“ über die Schlachtfelder und plündern die toten Soldaten aus. Waffen, Helme, Orden und Gürtelschnallen wandern auf Ebay (Gut die Waffen nicht, die werden auf düstereren Wegen verkloppt), die Gebeine der Toten landen im Straßengraben. Man kann das jetzt als verabscheuungswürdigen Akt gegen die Totenruhe verurteilen, muss aber dazu sagen, dass ein idiotisches Eisernes Kreuz für diese Leute ein Monatslohn ist, und zwar nur, weil idiotische Halbnazis in der westlichen Welt auf diversen idiotischen „Sammlerbörsen“ idiotische Mondpreise für diese Militaria hinlegen. Wie bei jedem hässlichen Markt könnte man ihn trockenlegen, wenn man die Kunden stärker ins Visier nähme, denn die haben oft viel zu verlieren, die Anbieter nicht. Wo war ich?
Die Gegenbewegung zu den „Black Searchern“ sind die „White Searcher“, die sich in den letzten Jahren zu einer Art Volksbewegung in Russland entwickelt haben. Ihnen geht es im Gegensatz zur kommerziellen Suche darum, die Toten wenn möglich zu identifizieren, im Idealfall sogar Angehörige zu finden und zu benachrichtigen, und den Überresten eine etwas würdevollere Ruhestädte auf einem Militärfriedhof zu geben.
Iskender ist Professor an der Universität von Kasan, einer Stadt, von der ich zuvor nie gehört hatte, ich ignoranter Westler, die aber die sechstgrößte Stadt Russlands mit 1,24 Millionen Einwohnern ist, Provinzhauptstadt von Tatarstan und Zentrum des russischen Islam. Er leitet eine Gruppe von White Searchern, die seit Jahren 150 Kilometer südlich von St. Petersburg im Sumpfwaldgebiet Myasnoi Bor nach vergessenen Toten sucht. Trotz Sprachbarriere und sagen wir mal „Vorgeschichte“ zwischen mir als Deutschen und ihnen als Russen zeigte er sich offen und erfreut über mein Interesse und bot mir sofort an, ihnen im Frühling zu helfen. „Мясной Бор“ heißt übersetzt „Fleischnadelwald.“
St. Petersburg ist von Kasan rund 1200 Kilometer entfernt.
St. Petersburg hieß im zweiten Weltkrieg noch Leningrad und war Schauplatz einer der übelsten und menschlich grausamsten Belagerungen der Geschichte. In Myasnoi Bor unternahm die Rote Armee einen Entlastungsangriff auf die Frontlinie der Heeresgruppe Nord, der völlig hoffnungslos war und mit einem extrem hohen Blutzoll an russischen Soldaten erkauft wurde, ohne der Stadt die erhoffte Erleichterung zu bringen. Seit 70 Jahren holt man aus diesem Wald Tonnen von Gebeinen heraus.
Um ein Visum für Russland zu bekommen geht man auf das russische Konsulat mit dem in Fleißarbeit erstellten Papierkram oder man beauftragt eine sogenannte Visaagentur, die das gegen Geld für einen übernimmt. Deshalb habe ich heute morgen meinen nagelneuen Pass mit der Post verschickt, ich wünsche ihm, dass er gut ankommt. Die Agentur übernimmt auch das vorzulegende „Einladungsschrieben“, das von der Idee her eigentlich von jemand in Russland kommen sollte, der mich einlädt, damit der russische Staat sieht, dass ich keine Invasionsarmee bin, aber man kann es sich offensichtlich auch einfach von der Agentur kaufen.
Um es kurz zu machen: Zwischen April und Mai buddele ich in einem russischen Wald nach vergessenen Toten des Zweiten Weltkrieges. Und ich weiß, dass mich jetzt wieder alle für ziemlich bekloppt und leicht krank halten.
Aber.
Seit Jahren laufe ich mit dieser Geschichte im Rücken herum. Dass tun wir alle hier in der BRD, Steinmaier nannte es kürzlich „Verantwortung.“ Manche ignorieren diese Verantwortung von Geburt ab geflissentlich, zu viele hetzen aktiv dagegen an, seit einigen Jahren werden das zunehmend mehr, das Hetzer-Virus grassiert in unserem Land und im Gegensatz zu dieser Corona-Geschichte macht mir diese Seuche in unserer Mitte eher Angst. Ich habe den düsteren Eindruck, dass mein Staat, von dem ich eigentlich Schutz erwarte, nicht wirklich etwas gegen diese zerstörerischen und kriminell agierenden Kräfte in unserem Land unternimmt. Aber ich bin mir dieser Geschichte im Rücken, die noch lange nicht fertig für den „Schlussstrich“ ist, sehr bewusst.
Mein Großvater, Karl Vetter, überlebte den Russlandkrieg und stand die meiste Zeit im Dienst des Ulmer Infanterie-Regiments 5 (später 5. Jägerdivision), Teil der Heeresgruppe Nord. Er war, wenn ich das richtig recherchiert habe, 150 Kilometer südlich von Mjasnoi Bor stationiert, in Demjansk, ein Name, der mir noch aus seinen Erzählungen im Gedächtniss bleibt. Vielleicht blogge ich über meinen Opa und seine Zeit im Krieg einmal an anderer Stelle.
Ich finde es völlig in Ordnung, dass sein Enkel nun hilft, die vergessenen Toten dieses Krieges zu finden und zu bestatten.
Mehr zu der Suche, dem Ablauf, meiner Reise, den Bedingungen, was ich erwarte, was ich erhoffe, was ich befürchte bei Gelegenheit. Übrigens: Das erste, was man bekommt, wenn man mit einer deutschen IP-Adresse „Myasnoi Bor“ googelt, sind Websites von Freunden des Paranormalen und Schauer-Videos mit dem Untertitel „Der verfluchteste Wald Russlands.“ Ich werde am Wochenende mit Natalya, einem gut englischsprechenden Mitglied der Gruppe skypen, und ich werde sie dabei auch nach Gespenstern fragen.
Ich bin echt gespannt auf diese Reise.
Waaaah, du ziehst es durch!! Krass. Ich bin sehr gespannt auf deine Berichte und hoffe, es wird nicht zu kalt und matschig und anstrengend. 🙂
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Habe gestern mit Leuten aus dem Team geskypet: Es wird ziemlich sicher kalt, matschig und anstrengend. :))
P.S.: Gespenster gibt’s übrigens keine, nimm das paranormale Community Westeuropas! Aber gerüchteweise wollen Leute vor einigen Jahren mal einen Bären gesehen haben.
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*Maxime, dein Beitrag betrifft im Kern unsere Schule und hat mit dem Thema des Beitrags wenig zu tun. Ich habe ihn deshalb nicht veröffentlicht*
kaninchen316
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