Man weiß ja nie, was einen an einer Grenze erwartet. Vom spannender Machen des Lebens her gedacht ist die wiedererwachte europäische Grenzfreudigkeit definitiv eine Steigerung. Diesmal: Alkohol-Test um 8:30. Ich muss zwar nur in eine Art Trichter pusten, aber alleine die Idee um diese Uhrzeit den Alkoholpegel eines Wohnmobilisten zu messen fordert zu leicht rassistischen Osteuropa-Witzen auf oder aber zu einem erneuten Rant gegen diese Scheiß-Linien auf der Landkarte, die unsere Reisefreiheit ausbremsen.
Ich bin natürlich frühmorgens nicht betrunken.
Gleich danach bin ich nicht nur nüchtern, sondern im Baltikum. Es ist echt frisch geworden. Der Himmel ist ein wilder Mix aus dicken weißen Wolken und gleißendem Sonnenschein, der Wind ist wirklich kühl. Die Autobahn nach Kaunas ist links und rechts von Rapsfeldern und Wäldchen gesäumt. Alles wirkt ziemlich neu und wohlhabend, die Autos, die Firmengebäude, die Autobahn selbst. Inzwischen dämmert mir, dass die Deutschen mit die kaputtesten und ranzigsten Autobahnen in der EU haben. Jahrelange Vernachlässigung zugunsten von Neubau-Fantasien, unkontrolliertes gebührenfreies Nutzen, teures Kaputtrasen als verqueres Freiheitsideal.
There is no glory in prevention.
Und dann: Kaunas. Die nur viertgrößte Stadt Litauens, ein bisschen zwischen Ludwigsburg und Stuttgart von den Einwohnendenzahlen. Und mir geht es mit Kaunas wie mit Zagreb im März: Dann, wenn ich von einem Zwischenstop wenig erwarte, haut es mich ziemlich weg.
Kaunas hat genau diesen Vibe zwischen Geschichte und Modernität, den Städte in Tourismusbüro-Broschüren so gerne beschwören, und so selten haben. Es gibt die fast niedliche Altstadt mit Kopfsteinpflaster, Kirchen und niedrigen Häuschen. Es gibt die Neustadt mit einem höllenbreiten Prachtoulevard, einer Allee in der MITTE der Straße, alles komplett autobefreit und zum Flanieren einladend.
Ich entdecke die letzte stehende Synagoge von Kaunas, ein sehr schöner weißer Bau aus den 1870ern. Vor dem Krieg waren 30 % von Kaunas jüdisch. Dann waren die Deutschen hier. Geschichte.
Dahinter ist gleich die Yard-Gallery. Modernität. Kaunas ist nämlich auch ein Street-Art-Zentrum, man kann Murals quasi überall entdecken. In der besagten Yard-Gallery, ein ehemals ganz normaler Wohn-Hinterhof, ist so eine Art Nukleus der Street Art Bewegung in Kaunas. Das Projekt begann um einerseits die in der Moderne entfremdet von einander lebenden Bewohner der Häuser um den Hof in Kontakt zu bringen. Andererseits wird der im Krieg ermordeten jüdischen Bewohner der Häuser mit Murals gedacht. Das Ganze schwankt so elegtant zwischen Augenzwinkern und Ernst, dass man sich einfach in den Hinterhof verlieben muss. Eindrücke:












Danach stolpere ich in die Cyberpunk-Seite von Kaunas: Auf einer Memel-Insel steht die sehr futuristische Arena in einem grünen Inselpark. Daneben liegt ein Shopping-Center, das einfach mal ein paar historische Gebäude mit einer riesigen Halle überdacht hat. Die alten Häuser dienen als Läden und Restaurants, obwohl ich fürchte, dass nicht viel mehr übrig ist als die Backsteinfassaden.
Insgesamt wirkt das Baltikum so, wie ich es mir erhofft habe: Sehr cool und modern. Ich bleibe heute Nacht mal in town und suche mir keinen Wald. Habe mir für nachher Kino-Tickets für „Thunderbolts“ geholt, hier sind nur Kinderfilme auf Litauisch. Danach vielleicht noch ein Bier in einer Bar?
Irgendwie so.
