Ach, manche Zufalls-Begegnungen sind wirklich herzerwärmend. Ich parke heute Nacht an der Düna, die knapp östlich von Riga ziemlich breit ist. Schöner Grillplatz, Dixie-Klo, Pavillion. Unter dem Dach grillen zwei junge Letten und eine Lettin, sie sind wohl in den 20ern. Ich spreche sie kurz an mit einer Frage zu einer bestimmten Flussinsel, die ich eventuell morgen näher erkläre. Sie wissen aber nichts Genaues.
Ich fange in Gaspard an Abendessen zu richten.
Spaghetti mit Lauch-Käse-Soße. 5 Minuten später klopft es an der Tür. Es sind die Letten mit einem Pappteller. Ein gewaltiger Haufen Grillfleisch und ein winziger Klecks Salat. Ob ich hungrig sei?
Ich bringe es nicht über’s Herz, das Wort „Vegetarian“ auszusprechen.
Ich schenke den netten Letten mein letztes urdeutsches Paulaner-Bier und verzehre das sehr gut gegrillte Fleisch, mich fragend, was ich mit dem gerade frisch geschnittenen Poree nun anstelle. Danach bedanke ich mich nochmal draußen und lobe den Grillmeister. Schwups, mir wird ein lettisches Bier in die Hand gedrückt. Und es ist gut. Danach quatschen wir 20 Minuten über Gott und Lettland, leider kann nur einer der Jungs ordentlich Englisch. Sie haben einen kleinen, übereuphorischen Hund namens „Osman“, der am Ende in meinen Bus hüpfen will.
Es ist eine wirklich schöne europäische Begegnung.
So wie mein Tag an windigem Wasser endete, begann er: An einem litauischen See. Der Weg nach Riga war nicht weit, führte aber fast komplett über Landstraßen. Ohnehin sind die Straßen Lettlands in deutlich schlechterem Zustand. Rastplätze eher selten, man biegt in den Wald ab. Die Landschaft flach, aber schön, die Häuser oft aus Holz. Noch nie so viele Störche gesehen.
Riga ist … wunderschön. Tolle erhaltene Altstadt, riesig breite Flussmündung. Ich denke mir noch: „Hier musst du mal genauer hinschauen,“ bevor ich in’s lettische Militärmuseum abbiege. Denkste. Das Museum sitzt in einem alten Befestigungsturm und ist komplett umsonst. Ich kenne diese Art Armee-Museum. Drei Räume, maximal vollgestopft mit Vitrinen und kleinen vergilbten Pappschildchen.
Denkste.
Das erste was mich begrüßt ist ein komplett zerschossener moderner Pickup, komplett übersäht mit Splitterlöchern. Er war Teil des berühmten „Twitter-Konvois.“ Nie gehört? Mag sein, dass bundesdeutsche Medien das nicht so in den Focus rückten, in Lettland ist das eine große Sache. Kurz nach dem Überfall der Russen auf ein kleines osteuropäisches Land organisierten lettische Bürger*Innen über eine damals „Twitter“ genannte Plattform eine private Sammlung von geländetauglichen Automobilen für das ukrainische Militär, um den Mangel an leichten Fahrzeugen zu lindern. Über 400 Autos kamen zusammen, die in einem langen Konvoi in die Ukraine fuhren. Inzwischen haben die Letten über 1000 Fahrzeuge für den Krieg gespendet, die meisten davon fahren immer noch in der Ukraine. Der Pickup im Museum allerdings hatte Pech.
Im nächsten Raum starren mich 30 lebensgroße Fotos von jungen ukrainischen Soldat*Innen an, die alle im Juli 2022 ums Leben kamen. Daneben Beutestücke von russischen Soldaten und eine abgeschossene russische Drohne. Überhaupt sieht man in Riga die ukrainische Fahne häufig neben der lettischen hängen. Ich bin gar nicht mehr weit von diesem Krieg weg – hier wird das einem schmerzlich bewusst. Er ist in Lettland sehr präsent und nicht nur ein Nachrichteneinspieler. Hier herrscht uneingeschränkter Support anstatt Scholz-Bedenken, denn man ahnt: Die Ukraine ist die Front vor der Front in Lettland.
Und an Kriegsfronten ist die lettische Geschichte reich. Das weitere Museum ist wirklich groß, sehr modern und hochwertig aufgemacht. Eine gewaltige Flut an Exponaten und Dokumenten stellt mit Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert die lettische (Kriegs)Geschichte dar. Alleine in den Räumen zum Ersten Weltkrieg benötige ich eine Stunde. Leider ist die Ausstellung zur Zwischenkriegszeit und zum Zweiten Weltkrieg nicht zweisprachig und man muss sich die englischen Texte etwas mühsam aus laminierten Seiten an der Wand holen. Aber eines wird klar: Das mit Lettland war kompliziert, wendungsreich, und ständig kam ein Arschloch-Regime vorbei, um kräftig herumzumorden.
Das oberste Stockwerk ist dann wiederum eine etwas zweifelhafte Reklame für das lettische Militär mit seltsamen „Spielen.“ Kannst du dieses deutsche Sturmgewehr von 3,5 Kilogram eine Minute in der ausgestreckten Hand halten?
Als ich aus dem Museum komme ist es kurz vor sechs. Ich brauche definitiv hier einen zweiten Tag. Dann fahre ich zum Schlafplatz und treffe …
… echt nette Letten.

