Ich erwache, weil es auf mein Dach hagelt. 5:38. Kalt ist es auch. Meine Laune sinkt. Die Recherche gestern hat ergeben, dass die Boote zur „Island of Death“ erst im Sommer fahren, und Mai ist noch kein Sommer in Lettland. Vermutlich könnte ich mir ein Kajak mieten, aber die Idee, mich bei 8 Grad mit meiner Paddelerfahrung einem Kajak und einem Fluss mit Strömung anzuvertrauen, scheint mir … schwach.
Obwohl … es wären nur 200 Meter.
Jedenfalls liegt da in der Düna eine Insel, das heißt, heute ist sie eine Insel, wegen des Stausees, den man für Riga angelegt hat, aber 1916 war sie eine Halbinsel am südlichen Ufer der Düna und der einzige russische Brückenkopf in der deutschen Front. Ich habe doch erwähnt, dass direkt ich auf der Weltkriegsfront campe, oder? Nicht?
Die vergessene Front.
Während die Westfront und die Alpenfront unendlich oft aufgearbeitet wurde, ist die Ostfront sowohl in der Forschung als auch im Geschichtsbewusstsein der breiten Masse komplett unterrepräsentiert. Dabei fanden dort große und heftige Schlachten statt. Zunächst ist es ein ziemlicher Bewegungskrieg. Aber 1915 drängen die Mittelmächte das zaristische Heer weit ins Baltikum und Galizien zurück und es bildet sich bis 1917 eine relativ starre Front. Die Russen hocken am Ostufer der Düna, die Deutschen im Westen. Außer im Falle der „Island of Death“, die von lettischen nationalen Verbänden innerhalb der russischen Armee verteidigt wird, die einen große Rolle im Gründungsmythos Lettlands bilden. Die Deutschen setzen hier zum ersten Mal an der Ostfront Giftgas ein. Es muss die Hölle gewesen sein.
Heute befindet sich auf der nun Ganz-Insel ein Denkmal, einige restaurierte Gräben und … wer weiß was sonst noch. Gerne wäre ich dort herumgestreunt, aber die Chancen stehen dafür schlecht. Dafür finde ich heraus, dass auch mein Grillplatz mit den netten Letten heftig umkämpft war. Eine morgentliche Exkursion in den vernieselten Uferwald fördern.
a.) eine leere Granathülse
b.) Ein Stück Stacheldraht
c.) Eine Schrapnellkugel
zum Vorschein. Ansonsten ist der Boden ungünstigerweise sehr mit kniehohem grünem Kraut überwuchert. Es verhindert die Sicht auf den Untergrund und durchnässt meine Schuhe und Hosenbeine.
Planänderung.
Dann eben Waschtag. Ein Laundromat im Rigaer Vorfeld ist schnell aufgetan und ich verbringe den Morgen damit, eine Maschine Wäsche zu waschen und zu trocknen, durch ein ziemlich leeres Einkaufszentrum zu streunen und mir im Baumarkt eine Wollmütze zu kaufen.
Mittag in Riga. Ich habe mir den Jugendstil-Teil der Stadt noch nicht angesehen, nur den Hanseteil. Also fahre ich eine Stunde mit dem Fahrrad durch den Jugendstil-Teil und denke mir: „Ach wie schön, Jugendstil.“
Nachmitag am Strand. Die ganze Küste nördlich von Riva ist ein einziger prächtiger Sandstrand. Feriensiedlungen, Strandparkplätze, Holzbohlenplattformen – und wunderschön. Alles sieht wie frisch gelüftet aus. Ich spreche mit einem weiteren netten Letten, gehe eine Stunde am Wasser entlang und liege 10 Minuten auf einer Sonnenliege, bis mich der eisige Nordwind vertreibt.
Ich revidiere mein Urteil, dass Litauen besser ausgestattet ist als Lettland.
Abend in Estland. Eigentlich suche ich nur nach einem guten Parkplatz, aber das, was über den Spot kurz hinter der Grenze geschrieben wird, ist zu unglaublich, das muss ich mit eigenen Augen sehen. Apropos Grenze: Die liegt mitten in einem Küstenort. Keiner steht da oder will was. Nur ein Schild informiert über die Geschwindigkeitsbegrenzung hier, die übrigens genau so ist, wieauf der anderen Seite der Demarkationslinie.
Beide Seiten der Grenze riechen skandinavisch. Bunte Holzhäuschen, lichte Kiepinien-Wälder, lange Strände.
Und dann: Ein Umsonst-Camping-Platz bei einem Ort namens Treimani. Im Wald, direkt am Strand. Keine Betreuung, man darf einfach drauf fahren. Es gibt sicherlich 100 Stellplätze zwischen den Bäumen, Klohäuschen, Wasserstelle, Mülltonne und drei Dutzend Grillstellen. Kostenlos. Wir sind zu zweit hier, aber ich parke 500 Meter von dem anderen Bully entfernt. Heute Nacht zünde ich mir ein Feuer an, weil ich’s kann. Das Baltikum ist wirklich der absolute Hit.
So geht guter Sozialismus!

