Wie man am letzten Eintrag sehen kann, gibt es in Birkenau auch Tickets an der Kasse, allerdings nur für geführte Begehungen. Worte sind hier schwierig. Außer: Jeder sollte sich das vor Ort ansehen. 2025 noch viel dringender als vor ein paar Jahrzehnten.
Das Wetter bescherte weiter kein Glück, im Gegenteil, auf dem Gelände gerieten wir in einen formidablen Hagelsturm. Aber als Ausgleich zu einem düsteren Mittag bekam ich dann einen richtig guten Abend.
Zunächst mal: Ich bin dumm und sollte mich mal vor meinen Reisen informieren. Über der tschechischen Grenze stelle ich nämlich zwei Dinge fest: Zum einen sollte ich mir richtig schnell jetzt eine E-Vignette besorgen; Zum anderen ist Tschechien gar nicht Euro-Zone, sondern noch immer Kronen-Land. Das ist schön nostalgisch und erinnert mich an meine Studententrips nach Prag, bringt mich aber nicht aus der nervigen Orga-Arbeit beim Bezahlen.
Ostrava beschert mir einen wunderbaren Abend. Ich parke in der drittgrößten Stadt des Landes direkt hinter einem riesigen alten Stahlwerk auf einer verboten großen freien Fläche. Sicherlich hätten hier tausend Fahrzeuge platz, Gaspard steht da ganz alleine unter dem einzigen Baum auf dem Gelände. Es regnet. Mal stark, mal nieselig, aber so gut wie nie nicht.
Wikipedia preist als Sehenswürdigkeit eine Partymeile, mit mehreren dutzend Clubs und noch mehr Kneipen. Aufgrund des Regens und weil das Knie noch immer nicht gut auf das Fahrrad zu sprechen ist, pilgere ich zu Fuß die 20 Minuten entlang der Bahngleise. Ostrava wirkt schön verratzt industriell, das mag ich ja als Ambiente.
Die „Partymeile“ – Na ja, Wikipedia.
Klar, es ist eine längere Straße mit Kneipen, aber halt auch ne ganz normale Straße, kein Vergleich zu etwa Zagrebs Vergnügungs-Strip. Für einen Samstag ist kaum was los hier. Ich biege in den Irish Pub ab, nur um festzustellen, dass da Pop-Mucke läuft und es kein Pub-Food gibt. Irish, my ass. Also auf ein Bier an der Bar, trocknet die Jacke vielleicht wieder ein bisschen.
Dann setzt das Glück ein.
Die nette Bedienung fragt mich ob ich noch ein zweites Bier möchte? Ich blicke zweifelnd auf den ersten halben Liter „Staropramen,“ an dem ich etwas zu schnell auf nüchternen Magen getrunken habe. Also ich sollte wohl nicht gleich noch eins … Ja nun, meint die Barfrau, die Happy Hour sei in 5 Minuten rum und mein zweites hätte ich quasi mit dem ersten schon bezahlt. For free? Ich schlage ein.
Der billigste Rausch meines Lebens.
Als ich gegen kurz vor neun aus dem Pub bzw. der daneben liegenden Pommes-Bude trete, ist die Welt ein wenig wattig und das Licht ein wenig weicher geworden. Oder wie man auf ehrlich sagt: Ich habe einen sitzen. Auf dem Heimweg erschallt dann plötzlich ein Soundcheck eine Ecke weiter durch den Abend. Eine E-Gitarre wird gestimmt. Das hört sich doch gut an.
Ich biege ab und stehe vor der Stadtverwaltung von Ostrava, ein klotziges, graues Hochhaus. Eine überdachte Bühne im Nieselregeln, ein Dutzend Leute, eine hell erleuchtete Verwaltung. Mit Google Lens versuche ich rauszubekommen, was der Anlass ist, aber außer dass die Verwaltung heute zum Fest lädt und man Termine mit dem Oberbürgermeister für persönliche Gespräche hätte buchen können, gibt das Plakat nicht viel her. Der Regen hat eventuell die meisten Bürger*Innen der Stadt von einem Besuch der Veranstaltung abgehalten, es wirkt leer.
Aber da steht eine Band.
Sie ist nur eine Coverband, aber: sie ist gut. Man merkt das daran, dass sie großen Spaß daran haben miteinander zu spielen, auch wenn der Platz vor der Bühne mit wenigen Leuten bestückt ist. Der Leadsänger ist definitv Brite, er ähnelt optisch Achim Mentzel auf verblüffende Weise. Die vier Jungs spielen sich einen Wolf, trotz Regen und kaum Publikum. Nach und nach zieht die Mucke Passanten auf dem Weg zu Kneipen an, es werden mehr, die stehen bleiben. Eine 7-Minuten-Version von „Call me Al.“ Eine 12-Minuten-Version von „Let’s Dance.“ Die Leude gehn mit.
Eine Party macht sich breit.
Und so habe ich doch noch meinen Sabbatical-Moment an diesem wolkenverhangenen Tag: Ich tanze, deutlich angetrunken, vor einem kommunistischen Betonbau im Nieselregen zu einem alten Bowie-Song, als einziger Deutscher mit ein paar Dutzend Tschech*innen und habe richtig, richtig Spaß.
Und es gibt gute Gründe, nach Auschwitz das Leben zu feiern.
Ich sitze am Folgemorgen in einem McCafe kurz vor Brünn bzw. Brno und nutze das WLAN, weil mein Datenvolumen auf dem Handy langsam knapp wird. Angepeilt ist nun Prag, da war ich zwar schon oft in meinem Leben, aber es liegt halt echt geschickt auf dem Weg nach Hause.
Brno ist eine wirklich schöne Stadt – einmal mehr. Hier dominiert nun baulich habsburger Neo-Klassizismus und auf einem Hügel thront die gotische Kathedrale. Brno ist außerdem eine Kulturmetropole, das zeigt sich an diesem Sonntag an einer Trommel-Truppe auf dem Marktplatz.
Mich zieht es aber nach kurzem Spaziergang in die Außenbezirke, wo an einem Hang die Villa Tugendhat liegt. Gebaut hat sie Mies van der Rohe 1929, für eben die Familie Tugendhat, und ich bin persönlich ein großer Fan seiner Architektur, die man ja auch in Stuttgart im Weißenhof-Museum erleben kann.
Leider kann man die Räumlichkeiten der Villa nur nach einer vorherigen Online-Reservierung besichtigen, aber die frei zugängliche Ausstellung im Keller gibt einen guten Eindruck von den atemberaubend schönen und doch modern-wohnlichen Räumen. Ich bin immer wieder fasziniert davon, was für Meisterwerke der Modernität die Weimarer Republik erschaffen konnte, und hätte nicht der Zivilisationsbruch von 1933 diesen Geist der Modernität brutal abgewürgt, was hätte wohl daraus noch alles für die Zukunft entstehen können.
Es ist darüber hinaus faszinierend, wie sich auf dieser Europa-Reise immer wieder Zusammenhänge zwischen meinen Aufenthaltsorten ergeben. Vor etwa einem Jahr stand ich in den Räumen der Wannsee-Konferenz – eine Villa – die die Ausrottung des europäischen Judentums organisierte. Gestern stand ich in der direkten monströsen Folge dieser Beratung. Und vor der Tugendhat-Villa sind schön polierte Messing-Pflastersteine für ihre Bewohnenden eingelassen. 1938 floh nämlich die Familie vor den Nazis, die frisch Österreich angeschlossen hatten, in weiser Vorraussicht, denn sie waren Juden.
Nun ja – morgen also Prag.
