Die erste Morgenröte schiebt sich über das Stoppelfeld und tuscht ein unfassbares klares Rosa in das Dunkelblau. Letzte Sterne bilden kleine blasse Punkte dazwischen. Ein grauer Kirchturm erhebt sich hinter dem niedrigen Wäldchen, ein dunkler Schatten, unverrückbar seit Vorzeiten. Dann beginnt es. Zuerst beginnt das Dorf hinter dem Hügel seine Glocke zu läuten, dann fällt das zweite ein und letztendlich gesellt sich der von hier aus sichtbare Turm mit hellem Schlagen dazu. Der Himmel wird heller, während ringsum die Türme den Tag einläuten. Über dem kühlen Feld ein Haleluja.
Gut, 6.30 Uhr ist schon krass früh für ein Glockenkonzert.
Samstag. 14.09. Ich sitze eine Stunde später fluchend in Gaspard, weil die Frontscheibe mal wieder fett beschlägt und nun auch noch die niedrig stehende Morgensonne aus einem wolkenlosen Himmel direkt von vorne strahlt. Ich fahre quasi blind über eine enge Landstraße und erkenne schemenhaft noch rechts einen Parkplatz mit ein paar Fahnenmasten.
Nothalt.
Ich bin durch schlechte Sicht am kanadischen Friedhof der Normandie zum Stehen gekommen, welch ein Zufall. Kanada scheint mir auf diesem Trip als Thema zu folgen. Ein relativ beeindruckendes weißes Tor mit zwei Türmchen lädt zum Blick aufs Gräberfeld ein. 2000 sollen hier laut Infotafel liegen, im Vergleich zu den mir vertrauten Dimensionen aus dem Ersten Weltkrieg ist das eine überschaubare Opferzahl. Ohnehin finde ich Militärfriedhöfe meistens semi-spannend.
Fünf Minuten später kämpfe ich mit den Tränen und merke wie meistens, dass ich verlieren werde. Auf allen anderen Kriegsgräberfeldern, auf denen ich in den letzten Jahren war, herrschte nüchterne Datenverarbeitung vor. Grabstein, Name, Einheit, Lebensdaten, natürlich nur, falls bekannt. Die Kanadier haben sich offensichtlich die Mühe gemacht, den Angehörigen anzubieten, einige Zeilen unten auf den Grabstein eingravieren zu lassen. Plötzlich werden aus Namen damit Individuen – vor allem in Form von Müttern, Vätern, Geschwistern, Frauen und Kindern der Gefallenen. Herzzerreißende Trauerbotschaften von nahestehenden Menschen zeigen die individuelle Bedeutung jedes Einzelnen hier auf, zeigen das Loch, das ein Tod in der Normandie in eine liebende Gruppe von Menschen riss. Damit erwischt mich der kanadische Friedhof voll.
Ironie: Some German killed them, some German cries for them.
Gegen 13.00 bin ich dann in der Bretagne. Die Küste vor meinem Parkplatz sieht aus, als hätten ein paar Riesen Eimer voll Murmeln in das Wasser gekippt, nur dass die Murmeln aus der Nähe teilweise mannshoch und tonnenschwer sind. Cote de Granite Rose heißt dieser Küstenabschnitt, und ich bin hier, weil ich in den 90s schon mal hier war, Studentenurlaub mit meinem Freund Markus damals. Ich wollte das noch mal sehen.

Einmal mehr habe ich Glück, es ist gerade Ebbe bzw. einsetzende Flut und der Strand ist riesig. Ich kann die Wasserlinie zwischen den Felsen entlangwandern, es ist wärmer und windstiller als in der Normandie. Ich habe sogar die Pariser Badehose dabei, knallorange. Und am Ende stehe ich sogar bis zum Bauch im Meer – weiter nicht. Niemand da, dem ich was beweisen muss, nur ich.
Irre, wie schnell die Flut zurückkehrt, in den Sielen kann man ihr quasi zukucken. Mein Rückweg ist wesentlich länger, weil Buchten, die ich vor einer Stunde locker durchlaufen habe, nun voll Wasser stehen. Das Ende des Tages begehe ich in Finisterre, auf einem schön großzügigen Parkplatz an einem breiten alten Fluss. Noch eine Stunde Waldspaziergang, dann Bratkartoffeln mit Spiegelei, ein bisschen noch den Laptop auf, dann Bett basteln.
Kein schlechtes Leben.