Es ist mehr ein großer Zufall, als das Ausfahrtsschild an mir vorbeizieht und der Name in mir etwas klingeln lässt, was ich eigentlich kenne. Kurz entschlossen wird Gaspard auf den nächsten Parkplatz gezogen und im Handy ein neues Ziel eingegeben, denn abseits der Strecke liegt etwas, das ich gar nicht hier vermutet hätte. Weil ich keine Ahnung hatte, wo in Frankreich es liegt.

30 Minuten später stehe ich in einem Gang mit über 600 Portraitfotos aus uralten Pässen und einer Bandstimme, die endlos Namen von einer Liste ließt. Vorname. Nachname. Alter. Immer wieder. Über 600 mal und dann von vorne.

Kurz etwas nüchterne Geschichte. Im Massive Central ist die Ressistance stark und aktiv. Vier Tage nach der Landung der Alliierten in der Normandie, zieht die SS-Division „Das Reich“ durch die Gegend um an der neuen Westfront zu helfen. Die Nazi-Elite-Einheit war zunächst von der Ostfront zur „Erholung“ nach Frankreich verlegt worden, bis sie um Limoges herum zur „Partisanenbekämpfung“ stationiert wird. Eindeutig formulierte Befehle verbrecherischer Wehrmachtsgeneräle legen der Division nahe, dass jede Widerstandstätigkeit mit größtmöglichen Bestrafungsaktionen gegen die unbeteiligte Zivilbevölkerung zu erwidern ist.

In diesem Szenario aus hochideologisierten SS-Leuten, kriegsverbrecherischer Oberleitung und einer aktiv die Landung unterstützenden Ressistance liegt die Ortschaft Oradour einfach nur im Aufmarschweg der SS-Division. Auf ihrer Route haben die sich als Elite definierenden Mannschaften und Offiziere des Verbandes immer wieder Schwierigkeiten mit Partisanen-Angriffen, die an ihrem Image als unaufhaltsame Superkrieger kratzen, weil ein paar Baskenmützenträger mit englischen MPs sie regelmäßig aufhalten können.

In Oradour dreht die Division durch und tut das, was man im Ostkrieg an Vernichtungsideologie als SS-Mann absorbiert hatte. Ein paar Stunden später verbrennen über 100 Kinder in der Kirche des Dorfes.

Heute ist Oradour ein stiller Ort. Die Last der Ruinen liegt schwer auf deinem Herzen. Es ist ein bewölkter Tag, als ich die kahlen Mauern betrete. In den Trümmern liegen rostige Hinweise auf ein einstmals ganz normales Zivilleben einer französischen Landgemeinde. Nähmaschinen, Heizkörper, Bettgestelle, Autowracks.

Das Ruinenfeld ist größer, als ich dachte. Man kann sich direkt verlaufen. Natürlich kannte ich die Geschichte vorher. Aber mir war nicht klar, was für ein großer und wohlhabender Ort der Nazi-Ideologie hier zum Opfer viel. Vier Cafes. Ein Restaurant. Drei Friseure. Arzt. Schlachter. Müller.

Bis ich in der Kirchenruine bin, dem Zentrum des faschistischen Mordes, ist mir zum Heulen zu mute. Man sollte besser den Wikipedia-Eintrag zu Oradour nicht lesen. Falsch: Alle sollten diesen Eintrag lesen, 2024 mehr denn je. Wenn man for dem alten Beichtstuhl unter den dachlosen Kirchenmauern steht und weiß, was sich beim Eintreffen der Helfer darin befand, dann wird einem klar, für was der NS letztendlich steht. Und in mir wächst die hilflose Verzweiflung darüber, wie Menschen so etwas tun können.

Wut über die juristische Aufarbeitung dieser undenkbar niedrigen Verbrechen. Darüber, dass man kein einziges SS-Schwein an einen Galgen gehängt hat, an den sie alle gehört hätten. Nur die DDR hat einen auf ihrem Staatsgebiet befindlichen Täter einigermaßen konsequent verfolgt. Wie kann in Europa Gerechtigkeit ein Wert sein, wenn Oradour quasi keine Konsequenzen hatte? Wie können wir einen heutigen Kindermörder anklagen, wenn hundertfacher Kindermord bereits 1956 als abgegolten galt?

Wut darüber, dass auf meinem Kontinent die selbe Ideenwelt, die Oradour angeordnet hat, wieder zu Wahlen antreten darf. Dass wir nicht daraus gelernt haben, dass das neuerliche Auftreten der Erben der SS-Männer von Oradour erbitterten Widerstand aller demokratischen Organe, die Pflicht zur Selbstverteidigung gegen die Diktatur aufrufen müsste, bei allem, was sich die Zivilisation nach dem 08. Mai 1945 schwor. Wut, dass wir Parteien, die geistig nachfolgen, nicht im Keim verboten haben. Oder es morgen tun werden.

Wut darüber, dass junge Menschen in Brandenburg Faschist*Innen wählen. Warum? Damit wieder Babies brennen? Ist es wirklich das, was ihr wollt? Seid ihr nur so unendlich dumm, dass ihr den Zusammenhang nicht fressen könnt, oder seid ihr überzeugte Befürworter rechtsextremistischer exterminatorischer Fantasien? Jeden von euch AfD-Wählenden möchte ich am Schopf durch Oradour-sur-Glane zerren, eure Nasen in die Trümmerhaufen und Rostbleche drücken, bis ihr selbst endlich riechen könnt, wie braune Gesinnung riecht, mit blutender Nase, nach Scheiße nämlich, nach Angstpisse und Mündungsrauch, nach verbranntem Fleisch, und wenn ihr AfD-Anhänger euch selbst dann noch zu den Faschos bekennt…

Mehr gibt es heute nicht zu sagen. Im Vergleich dazu ist heute sonst nichts Wichtiges passiert.

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5 Comments

  1. Oh ja, Oradour… Schrecklich. Danke für deine ehrlichen und richtigen Worte.

    Was mich aber damals beim Besuch noch weiter schockierte, war die Tatsache, dass unser deutsches Auto (aber französische Marke) bei unserer Rückkehr im Staub lauter Hakenkreuze trug…

    Als wären wir die SS Leute gewesen… Das war aber da auch noch die alte Gedenkstätte, da hätte man meinen können, es habe nie eine Völkerverständigung zwischen F und D gegeben, als wäre das alles erst vorgestern passiert!

    Ich hatte zudem den Eindruck, dass einige Dinge sehr bewusst in den Ruinen platziert wurden um die Dramatik (args) weiter zu erhöhen… z.B. die rostigen, schon fast pittoresken Nähmaschinen in den Fenstern… Aber vielleicht denke ich da zu schlecht über Menschen und ihre Bemühungen…

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    1. Und was würde das ändern? Natürlich ist allen – hoffentlich – klar, dass sie sich auf dem Gelände einer Gedenkstätte befinden, nicht in einem lost Place. Natürlich lag der verbrannte Babywagen damals nicht direkt vor dem Altar, sondern unter den Trümmern und Leichen. Bereits Ende 1944 wurde Oradour von der Resistance für die Bevölkerung „geöffnet“, um die Greuel der Besatzer allen Franzosen vor Augen zu führen.

      Das ändert aber nichts an der Bedeutung des Ortes.

      Man kann sich streiten, ob die Nähmaschine besser unter den Trümmern des eingestürzten Daches hätte begraben bleiben sollen.

      Ich finde nicht.

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      1. Ich schon, eben weil es keine ‚Attraktion‘ sein sollte… Es ändert natürlich nichts an der Geschichte, aber eben daran, wie sie verkauft wird. Das hat mich gestört. Weil es eben inszeniert aussieht (und ist). Das braucht dieser Ort überhaupt nicht! Allein die Mauern und das Wissen, was dort passiert ist, reicht vollkommen, um unerhörten Schrecken zu beeinhalten! Diese bilderbuchrostigen, hindrappierten Accesoirs haben es für MICH damals sehr, sehr surreal wirken lassen… die pure Realität würde ich hier ‚besser‘ finden, weil sie ja so schön unfassbar schrecklich ist. Aber das mag mein Anspruch sein, meine Sichtweise… Der normalo-Besucher braucht vielleicht diesen inszenierten Schrecken. Ich fand’s halt schade…

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      2. Ich empfind den Begriff „Attraktion“ absoult nicht nachvollziehbar. Und es wird dort auch nichts verkauft – im Gegenteil, der Besuch ist für alle kostenfrei.

        Die Straßen wurden von Trümmern befreit, um ungestörte Wege zu eröffnen, Ruineneingänge mit Zäunen versperrt, damit niemand darin herumstöbert. das Dorf mit einer Steinmauer umgeben, damit niemand nachts heimlich einsteigt. Veränderung ist unvermeidbarer Teil eines Gedenkortes. Es ist schlichtweg unmöglich den Ort des Massakers „original“ oder „realistisch“ zu lassen. Und warum sollte man? Es geht darum die Beweise für das dort verübte Verbrechen im Gedenken zu verankern und einen Ort der Trauer einzurichten. Den Opfern Namen und Geschichte zurückzugeben, die der Nazismus austilgen wollte. Beides tut die Gedenkstätte meines Empfinden nach sehr würdig und angemessen.

        Ich kann leider die Begriffe, mit denen du arbeitest, beim besten Willen nicht mit meinem Besuch zusammenbringen. Und ich finde leider auch, dass diese Diskussion die Gefahr birgt, die Propagandalüge der heutigen wiederaufstrebenden Nazis anzudeuten, Auschwitz sei „von Hollywood inszeniert“ worden, um uns guten Deutschen Schuldgefühle einzureden. Das möchte ich auf meinem Blog nicht.

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