Wir starren uns in die Augen. Bei denen meist nur noch knöcherne Höhlen, in meinem Fall noch sehenden Auges. Die grinsen, ich bin ziemlich ernst. Sie sind hunderte, ja tausende. Ich bin wenigstens zeitweise ganz allein mit ihnen. Mumien. In langen Reihen hängen sie an der Wand, leicht vorgebeugt, als ob sie sich in einer Geste der Höflichkeit vor mir verneigen. Einige haben noch ein Gesicht, die meisten nur noch einen Schädel. Viele tragen ihre verblichene Sonntagskleidung aus dem 19. Jahrhundert, eine makabre historische Modenschau, inklusive Besitzer*in der einstmals feinen Stöffchen.

Ich wandere langsam durch die Kapuzinergruft.

Zeitsprung. Es sind wohl die mittleren 80er-Jahre. Samstags läuft nach den Nachrichten das „Auslandsjournal,“ eine journalistische, halbstündige Berichterstattung, meist aus aktuellen Brennpunkten, aber immer auch mit nur rein kulturellen Einblicken in fremde Länder. Obwohl ich nur ein Teenie bin, sehe ich das Auslandsjournal gerne mit meinen Eltern. Ich finde es oft interessant. Ein bestimmter Bericht, nur wenige Minuten lang, wird mich mein ganzes Leben nicht loslassen: „Die Mumien von Palermo.“ Die gezeigten Bilder passen so haargenau in mein lebhaftes Interesse an Horror und SciFi, dass sie sich quasi in meinen Schädel brennen. Es ist wie das Video von „Thriller“, nur offensichtlich echt. Wo liegt Palermo eigentlich?

Seelenstriptease:

Ich habe eine Scheiß-Angst vor dem Tod. Ja ja, haben doch alle, sagt ihr jetzt, aber ich meine: der Gedanke an den Tod löst in mir dumpfe Verzweiflung aus, alles krampft sich zusammen, ich kann mich nur schlecht damit konfrontieren. Die Erkenntnis der Vernichtung all dessen, was ich bin, meines Bewusstseins, ist gleichzeitig das Schrecklichste und das Unausweichslichste was ich mir vorstellen kann. Diese Kombination macht die Idee so haarsträubend grauenhaft. Nein, es ist ja noch viel schlimmer, es ist keine Idee, es ist ein Fakt. Wenn ich Leute sagen höre, dass sie ihre Endlichkeit ganz ok finden, löst das bei mir komplettes Unverständnis aus. Aber vermutlich glauben die einfach an so einen Quatsch wie Gott und erfassen gar nicht, was Sterben in Wirklichkeit ist: Die erzwungene Selbstauflösung der eigenen Identität, die ultimative Vergewaltigung eines einfach nur da sein wollenden Bewusstseins.

Dementsprechend bin ich schlecht mit toten Körpern. Eine verstorbene Taube auf der Straße löst in mir Herzklopfen und Zuckungen aus. Einmal habe ich ein seit ein paar Tagen totes Wildschwein im Wald gefunden. Ich konnte mich nur noch in Zeitlupe um den Kadaver herumbewegen.

Von daher war es heute ein äußerst ungewisses Selbstexperiment, was passiert, wenn ich mich in einen Keller mit 1000 mumifizierten Leichen stelle. Habe ich es im Griff? Rast mein Herz? Dreht irgend etwas in mir durch?

Die spannende Antwort war: Ich blieb absolut cool.

Zum Hintergrund: Die Kapuzinergruft ist nach Pompeii wohl der zweite Ort meiner Reise, der auf der Welt einmalig ist. Die Mönche des besagten Ordens fanden nach ein paar Jahren heraus, dass die in Tuffsteingewölben beigesetzten Brüder nicht komplett verwesten. Das lag an der trockenen, kühlen und wasserentziehenden Umgebung. Die recht gut erhaltenen Mönche wurden offen ausgestellt, auch ganz wörtlich an den Wänden aufgestellt, als Memento-Mori-Ausstellung. Die älteste Mumie in der Kapuzinergruft ist ein Bruder, der 1599 starb. Ende des 18. Jahrhunderts wurde es bei den Reichen von Palermo Mode, die Seinen in der Gruft mumifizieren und präsentieren zu lassen. Die Kapuziner, die mittlerweile eine etwas gezieltere Mumifzierungstechnik entwickelt hatten, ließen sich den Beerdigungsservice schön versilbern. 8000 Mumien sollen es einmal gewesen sein. Durch Brände und Weltkriegsbomben gingen eine ganze Menge verloren. Heute sind es noch etwa 2000, 1000 hängen senkrecht von der Wand oder liegen in geöffneten Särgen, der Rest schlummert hinter Marmorplatten und Sargdeckeln.

2025 konnte ich endlich mit eigenen Augen sehen, was ich ca. 1985 als Fernsehbild aufsog. Es ist ein faszinierender Ort, ein Panoptikum des 19. Jahrhunderts und des Todes in vergangener Zeit. Warum mich eine tote Taube aus der Fassung bringt, aber eine Armada mumifizierter Menschen nicht: Kein Plan. Traurig sind die vielen Kindermumien, von ihren Eltern in den besten Kleidchen beerdigt. Es gibt eine ganze Nische für tote Kinder, aber zwischen den erwachsenen Mumien stehen noch viel mehr herum. Traurig, weil man zwar weiß, das früher die Kindersterblichkeit hoch war, aber was das für die Familien bedeutet haben muss… Es sind so viele.

Ich bin ziemlich froh dass ich die Gruftgänge mit historischem Interesse und einer gewissen Neugier an den Leben der trockenen Überreste durchwandeln konnte.

Was mich wirklich verstörte, waren die Führungen, die da unten stattfinden. Ich finde, die Armee der stillen Körper verpflichtet irgendwie zu Stille. Diese Führungen hingegen … 50 Leute, alle im Schlepptau einer laut schnatternden Guide, Italienisch, Französisch, Englisch. Alle einen Knopf im Ohr, weil es sind ja so viele. 10 Minuten Gruft, durchrauschen, vor 5 bekannteren Mumien etwas erzählen, raushetzen zum wartenden Bus. Ich verdächtige Kreuzfahrtschiffe hinter dieser Störung der Besucher- und Totenruhe. Wie immer ist ein anlandendes Kreuzfahrtschiff eine Geisel für die Stadt, nur dass sie im Gegensatz zu den Wikingern bezahlen. Das Gute ist, dass man die Stechschritttruppen leicht vorbeirauschen lassen kann, weil sie so schnell sind. Immerhin habe ich so 10 Minuten ganz allein mit dem Tod. In der Zeit, die ich für den Rundgang brauche, passiert mich drei mal so eine Pauschalreisen-Bande.

Und dann ist da natürlich Rosalia.

Die schönste Mumie der Welt. Und auch die letzte, die hier bestattet wurde. Rosalia war knapp zwei, als sie 1920 an der spanischen Grippe verstarb. Ein sizilianischer Präperator hat an ihr sein Meisterwerk vollbracht und mittels chemischer Kniffe das Kleinkind quasi komplett erhalten. Zumindest ihren Kopf, der Rest ist zugedeckt. Sie sieht wirklich aus, als ob sie nur schläft.

Fotos von Toten habe ich keine für euch, das ist untersagt, und zwar ist das genau Richtig so. Aber man kann „Kapuzinergruft“ googeln und bekommt dann die ganze Palette.

Ansonsten ist die Mumifizierung eine sehr sozialistische Sache, so viel Kapitalismus auch hinter dem Geschäft mit der Ewigkeit steckte. Irgendwann sehen alle gleich aus. Entweder sie grinsen leer in die Ewigkeit, wenn die Skelettierung weit fortschreitet, oder sie reißen gequält oder verzückt den Mund auf, wenn das trocknende Fleisch die Muskeln zusammenzieht. Aber letztendlich sehen die Jungfrauen – übrigens eine beschissene Idee, diese Zuschreibung an junge Frauen – kaum anders aus als die hochbetagt Verstorbenen. Einzig deine Körpergröße lässt erahnen, ob du ausgewachsen warst oder nicht. Wer es aushält: Besucht diesen Ort. Mit 5 Euro Eintritt sogar fast das Günstigste in Palermo.

Als ich aus der Gruft steige habe ich einen Bärenhunger.

Das ist vermutlich der makaberste Satz, den ich bisher geschrieben habe, und genau so makaber fühlt sich mein für mich ungewöhnlicher Hunger um 10:30 an. Aber ich steuere sofort die nächste Bäckerei an und genieße einen Cappuchino, ein Pistaziencroisant und die Gewissheit, lebendig zu sein.

Was habe ich heute sonst noch gemacht?

Zu früh aufgewacht, gefröstelt, im Mondschein den Berg hochgestiegen, oben den Sonnenaufgang beobachtet, mich dabei sehr romantisch gefühlt – im Sinne der Epoche, nicht des beschissenen Valentintages, ok?

Auf einem Straßenmarkt versucht einen frisch gepressten Orangensaft mit einem Zwanziger zu bezahlen, am Kleingeldmangel des Standes gescheitert, dann spontan von zwei Italienern eingeladen worden.

Am Jachthafen einen Aperol Spritz in der Sonne getrunken, was mir im Grunde komplett peinlich ist.

Bei der Rückkehr zu Gaspard festgestellt, dass ich dicht eingeparkt bin und nicht weiß, wie ich rauskommen soll. Von einem freundliche Signore mich 5 Minuten hin und herwinken lassen, der nur Italienisch brüllen konnte, bis ich mich rausgewiggelt hatte, ohne Beulen zu produzieren. Dem fantastischen alten Knaben eine Cola aus der Kühlbox geschenkt.

Im Stadtverkehr an den engen Sträßchen, google maps und dem Gegenverkehr fast irrsinnig geworden.

Jetzt stehe ich an einem steinigen Strand gleich hinter Cefalu. Meine Fähre geht übermorgen, eigentlich bin ich quasi fertig mit meinen Sizilien-Plänen. Allerdings sind die Wettervorhersagen düster. Schwere Warnungen für die Gegend um Catania, ich bin auf der anderen Seite einigermaßen weg von der Unwetterfront; Vielleicht ist es aber ganz gut, wenn sich das Meer noch mal 24 Stunden beruhigen darf, bevor ich die Fähre nehme.

Join the Conversation

2 Comments

  1. Ha, dachte mir bei dem Cliffhanger fast, dass du die Mumien anschaust… Ich finde eine touristische Vermarktung solcher Dinge ja sehr fragwürdig.

    Und vor dem Tod fürchte ich mich nicht. Wenn der da ist, werde ich es ja nicht mehr mitbekommen… Ich habe Schiß vor dem Sterben, also der mehr oder weniger langenZeit vor dem Tod.

    Der Tod gehört einfach zum Leben dazu. Wäre ja Wahnsinn, wenn es nicht so wäre.

    Naturlich ist es komisch, dass irgendwann nichts mehr von einem da ist, nicht einmal Gedanken an dich. Aber immerhin sind alle Atome , aus denen mein Körper zusammengesetzt war, dann irgendwo anders unterwegs oder neu eingelagert. Das finde ich cool. Oder den Gedanken, dass Teile meines jetzigen Körpers aus Atomen bestehen, die schon Mal in einem T-Rex verbaut waren 😜

    Leider sind es ja auch meistens die Voll Deppen, die mit ihren Leben in die Geschichtsbücher eingehen. Die meisten der bisher Milliarden Toten werden wohl unbeachtet bleiben. Und im Endeffekt dann auch die, die es zu Berühmtheit gebracht haben. Sie bleiben nur einen Wimpernschlag des Universums länger im Gedächtnis des selbigen…

    Like

    1. Die „touristische Vermarktung“ hat eine 200-jährige Tradition und hat mit dem Memento-Mori-Gedanken des südlichen Katholizismus zu tun. Das ist eine Welt, die uns Mitteleuropäern sehr fremd ist, aber tatsächlich war der Sinn sich von den Kapuzinern mumifizieren zu lassen, dass man hinterher gezeigt wird. Dass es jetzt seit 40 Jahren oder so auch Geld kostet in die Gruft zu gehen, hängt mit der zunehmend wissenschaftlichen Erforschung der Mumien von Palermo zusammen und den steigenden Kosten für die Bewahrung der älter werdenden Körper. Und ich schätze auch davor war der Klingelbeutel obligatorisch nach dem Klosterbesuch. Außerdem finanzieren die Kapuziner mit dem Geld bis heute eine Armenspeisungen in Palermo. Die geführten Riesengruppen sind da allerdings etwas anderes, so war das nicht gedacht, sondern dass der Besucher sich in stiller Einkehr der Sterblichkeit bewusst wird.
      Meine eigene Haltung zum Scheiß-Tod kann man wohl leider mit philosophischen Argumenten nicht auflösen. Ich will nicht aufhören. Ist einfach so.

      Like

Hinterlasse einen Kommentar

Hinterlasse eine Antwort zu kaninchen316 Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..