Tag 27 seit dem Close-Down aller Veranstaltungen, Tag 26 nach der Schließung der Kneipen und Clubs, Tag 24 nach der Schließung der Grenzen, Tag 22 nach dem Öffnungsverbot für alle Geschäfte, die nicht versorgungsrelevant sind, Tag 15 nach dem allgemeinen Gebot, sich maximal zu zweit in der Öffentlichkeit zu versammeln.

Hinter mir liegt ein ganz normales Coronawochenende. In Borderlands habe ich mich mittlerweile an den Endgamecontent heran geballert und kann mich vor goldenen Waffen, Schilden und Granatenmods kaum noch retten. Daneben gibt es in Battlefield 5 die weekly challenges, die ich meistens abklappere, um am Ende der Season die exklusive Skin freizuschalten. Warum mich als 46-jährigen Mann die Aussicht motiviert, als kleine Japanerin mit zwei Katanas und einem Sonnenbannerstirnband über ein virtuelles Schlachtfeld zu flitzen, weiß der Henker. Oder ein Psychoanalytiker. Die abstrusesten Goals erspare ich mir, verstehe aber nun, warum plötzlich so viele Spieler in kleinen Booten auf dem Wasser sitzen und versuchen, auf dem Land einen Feind zu treffen (sie sind dabei leichte Beute für alle Waffengattungen) oder Flugzeuge seit Kurzem bemüht sind, Gegner zu rammen anstatt sie zu bombardieren, was das Flugzeug schonen würde. Zum Entspannen zwischen dem ganzen Gezocke gibt’s diverse Streamer, die ich mir immer wieder anschaue, Leute die klugen oder witzigen Content ins Netz stellen, um die Krise wenigstens nicht langweilig werden zu lassen. Dazwischen ist noch Online-Pen-und-Paper, wo ich zwischen zwei Monitoren switchen muss, denn auf dem Laptop läuft der Videochat und auf dem großen Rechner die Tabletop-Software. Letztendlich war dann noch meine erste Zoom-Geburtstagsparty, nein, nicht meine, aber in der Konstellation über die Republik hinweg wären die Gäste nie in einem nicht-virtuellen Raum zusammen gekommen. Ein bisschen habe ich auch geschrieben. Und der Blog, ja richtig.

Um es kurz zu machen: Eigentlich hing ich Freitag, Samstag und Sonntag nur vor dem Rechner.

Der Montag morgen empfing mich mit Schwung und Elan – bis ich unter der Dusche stand und dieses extrem unangenehme Ziehen am linken Halsmuskel begann. Gegen Mittag war es so schlimm, dass ich anfing, den ersten Freunden davon zu erzählen. Ich erhalte Yoga-Tipps und die Empfehlung, Wärme auf die Stelle auszuüben. In dem Moment, als ich mit einer zusammengerollten Decke und einem Geschichtslexikon als Nackenklotz auf dem Parkett liegend versuche, die Übungen einer hübschen aber samtweichgespülten Online-Yoga-Lehrerin nachzumachen, weiß ich, dass ich ein Verspannungsproblem habe. Geht ja wohl bis morgen wieder weg, denke ich.

Am Morgen ist es tatsächlich besser – etwa 15 Minuten. Gegen halb neun google ich mit schmerzverzerrtem Gesicht nach einem Orthopäden in der Nähe. Ich bekomme dem Schicksal sei Dank umgehend einen Termin und humpele mit steifem Oberkörper als Zombie aus der S-Bahn über die Straße. Eine Straße ist echt scheiß-unangenehm, wenn man den Kopf nicht drehen kann. Der Arzt diagnostiziert eine typische Verkrampfung, zuppelt und zappelt an diversen Gliedmaßen, versucht meinen Nacken knacken zu lassen, der nicht knacken will, und spickt mich mit Nadeln. Ich hasse Nadeln, wenn sie im Körper landen.

Allerdings ist es danach wirklich etwas besser. Jetzt habe ich zwei lange Spaziergänge gemacht, mir auf einer Bank im Kurpark mittels Handykamera versucht, ein Wärmepflaster auf den Halsmuskel zu kleben (Teilerfolg), bin an der frischen Luft herumgelaufen (ein paar 100 Meter sogar tatsächlich gelaufen – das schlechte Gewissen) und habe auf Ratschlag meines schwäbelnden Orthopäden „heiße Wickel“ angewendet.

Und ich soll nicht so viel zocken, sagt mein Arzt.

Wer hat eigentlich darüber Statistik geführt, wieviele Tastaturnacken, Bildschirmrücken und Gamepaddaumen diese Krise bereits gefordert hat? Sind wir ehrlich, das Netz ist zur Zeit die einzige Quelle, aus der etwas anderes an Input kommt, als die eigene Wohnung bietet. Ich kann unmöglich der einzige mit dem Problem sein! Der Lockdown rettet mich vor Covid-19, aber ich zahle dafür einen Preis.

Vor 10 Jahren wäre mir / meinem Körper das nicht passiert.

Alt werden ist scheiße. Auf der nationalen Krisenebene haben wir es heute wiederholt mit einer flacheren Infektionskurve als in den vergangenen Tagen zu tun. Das ist zunächst mal schön. Im etwa gleichen Maße, wie Deutschland seine Curve flatten konnte, erheben sich nun die Stimmen, die Lockerungen der Maßnahmen fordern. Armin Laschet, im Maßnahmenverkünden mittlerweile Markus Söder hoffnungslos unterlegen, versucht sich seit neuestem über Exit-Pläne wieder mehr in die Wahrnehmung der Masse zu schieben. Es ist schön zu beobachten, dass auch der wirtschaftsliberale Flügel unserer Nation die Aufhebung der Maßnahmen unter dem Argument fordert, man müsse nun Schaden von „der Gesellschaft“ abwenden. Offensichtlich ist die Hochzeit des Neoliberalismus vorbei, in der man alles unter dem Gesichtspunkt der Schädlichkeit für „die Wirtschaft“ bewerten konnte. Jetzt müssen sie „Gesellschaft“ sagen, wenn sie „Wirtschaft“ meinen. Aber vermutlich waren beide Begriffe für diese Stimmen im Meinungspluralismus ohnehin immer deckungsgleich. Es bleibt spannend: einerseits nimmt der Druck für den Exit täglich zu, andererseits warnen Experten vor dem Beispiel Spanien, wo abflachende Kurven sich als trügerisch erwiesen, und die nächste Infektionswelle bereits wieder rollt.

Die ethischen Fragen sind auch nicht ohne: Ist es gerechtfertigt zum Schutz von älteren, schwer kranken Menschen, die statistisch ohnehin bald sterben würden, zahlreiche Familien in die Erwerbslosigkeit zu steuern? Ist das nicht genau die Gruppe Menschen, in der die populistische Botschaft, Politik dürfe mit „linkem“ Humanismus nichts zu tun haben, auf besonders fruchtbaren Boden fiel?

Kurz bevor die Coronakrise in Deutschland so richtig auf den Ventilator klatschte, saß ich an einem Montagmorgen im Auto auf der langen Fahrt von Norddeutschland ins schöne Schwaben. Für gewöhnlich höre ich auf diesen Fahrten Deutschlandfunk, weil dort nicht Max Giesinger nervt und die Reportagen was taugen. Gegen 10 bestand das Programm aus einer Radiodiskussion zur Situation an der türkisch-griechischen Grenze mit Call-In durch interessierte Zuschauer. Alle hineinrufenden Zuschauer an diesem Morgen waren männlich, hatten vom Alter brüchige Stimmen und bedienten die ganze Twitter-Palette der AfD, ohne dass sich der Moderator bemüßigt fühlte, irgend etwas richtig zu stellen. Einer der gegen jede Hilfe für Geflüchtete anhetzenden Senioren brachte sein Weltbild folgendermaßen zusammengefasst auf den Punkt: Es sei eine deutsche Krankheit, die Politik mit der Humanität zu vermischen, und leider täten das ja nicht mehr nur die Grünen, sondern mittlerweile seien auch die Volksparteien vom schädlichen Gift der Humanität infiziert.

Sollte man diesen alten Herren jetzt nicht beim Wort nehmen?

Von Covid-19 sind vor allem ältere Männer schwer betroffen. Wir würden uns eine Menge Rentenzahlungen sparen, AfD und CDU müssten in ihrer Schwerpunktgeneration ein paar Verluste verkraften und Fridays for Future hätte ein paar Klimarettungsgegner weniger. Viele freie Wohnungen bedeuten Entspannung auf dem Mietenmarkt. Ein lebender Rentner kostet unsere Gesellschaft deutlich mehr, als ein lebender Flüchtling.

Ja ja, natürlich sind diese Gedanken ungeheuerlich und nicht ganz ernst gemeint. Ja ja, man kann nicht eine ganze Generation in Geiselhaft nehmen, nur weil sich eine große Portion in Richtung rechter Flügel aufgemacht hat. Ja ja, es sind auch junge Menschen von Covid-19 betroffen, und Frauen, und die Frauen der Schimpf-Opas rufen so gut wie nie in diesen Radiosendungen an, um ins Telefon zu geifern, das ist vor allem eine Montag-Morgen-Beschäftigung für weißhaarige Männer. Und letztendlich rettet es keinen Flüchtling, wenn wir jetzt diese alten Leute opfern. Und da ist immer noch das arme Klinikpersonal, das traumatisiert werden würde.

Ja ja, ihr habt ja Recht. Und ich bin ja selbst auch nur ein mies gelaunter alternder Mann mit Schmerzen in der Schulter. Aber so als Gedankenspiel …

Die Kneipen offen und alles voller junger Leute. Schöne neue Welt.

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4 Kommentare

  1. Das ist für mich das Spannende an der Krisensituation: welche Effekte hat sie in Gesellschaft, Politik, im Denken, auf dem Wohnungsmarkt. Deine Sichtweisen dazu, auch da stimme ich dir zu – nur Gedankenspiele – ja und wieder ja: bereichernd.

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  2. Oh weia, gute Besserung für den Nacken. Ich würde zum Yoga (hilft!) und den Wärmepflastern (helfen auch, aber die von Thermacare sind geiler als die auf deinem Foto) noch in den Raum werfen: Nimm. Ausreichend. Schmerzmittel. Nein, wirklich. Sonst gehst du die ganze Zeit in eine Schonhaltung und verkrampfst den Rest vom Rücken auch noch. Ibuprofen oder noch besser Voltaren (gibts inner Apotheke rezeptfrei – auch als Salbe). Für ein paar Tage geht das mal, ohne dass es den Körper übermäßig belastet oder irgendwelche Abhängigkeiten erzeugt.

    Tja, das mit den Alten Weißen Männern ist so ein Ding, ich war auch, sagen wir, nicht gerade betrübt, dass gewisse britische Politiker in der Intensivstation gelandet sind. Aber leider gibt es auch gerade aus Kreisen der Alten Weißen Liberalen sehr viele unschöne „dann müssen halt ein paar Omas und Opas sterben um die Wirtschaft zur retten“-Hot Takes, und nee, ehrlich, in solche Richtungen möchten wir bitte nicht denken. Ein Menschenleben ist ein Menschenleben.

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    1. Tja, das denke ich doch eigentlich auch, Curima … ich finde es nur so eine bittere Ironie der Ereignisse, dass eine Schicht, von der ich überproportional oft pseudorationale Angriffe auf humanitäre Solidarität wahrgenommen habe, nun auf eben diese kostspielige Solidarität von anderen angewiesen ist. Seine eigene Medizin kosten müssen und so … Aber nein, du hast Recht, die Guten müssen die Guten bleiben. Sehe ich auch so.
      Der Schulter geht’s wieder einigermaßen, vielen Dank. Mit Schmerzmitteln hat mich schon mein Hexendoktor versorgt, die haben auch geholfen. Das Wärmepflaster auch, obwohl ich das gar nicht so warm fand. Vor allem körperliche Arbeit tat mir gut. Hauptproblem schient dieses Online-Rollenspiel mit zwei Monitoren zu sein, ich glaube ich muss mit der Position des Laptops experimentieren. Gelegenheit dazu haben wir ja bald … 🙂
      Verdammt, ich bin Nerd und Kellerkind! Das Schicksal darf mir jetzt nicht stundenlanges Gammeln vor dem Rechner wegnehmen! X)

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      1. Ach, wie gesagt, eine gewisse Schadenfreude bei Johnson und Konsorten fühle ich ja auch, so isses nicht.

        Ich kenn das aber auch mit den Rückenschmerzen, ich wechsel einfach öfter mal den Sitzplatz, damit ich nicht stundenlang in derselben Haltung rumsitze.

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