Ich kann nicht verstehen, warum Menschen den Dezember lieben. Ich hasse den Dezember. Der Dezember ist die hässliche entstellte Leiche des vergangenen Jahres, und selbst wenn es ein gutes Jahr war, ist der Dezember meistens hässlich. 2020 war kein gutes Jahr. Der Dezember ist der Selbstmördermonat, grau, dunkel, trist, an Schulen ganz besonders unerträglich, geprägt von Stress und Druck, Firmen peitschen irgendwie den Jahresabschluss durch, im Handel macht das Weihnachtsgeschäft aus Einkaufstraßen aufgestörte kommerzfixierte Ameisenhaufen. Der Dezember ist bei weitem der schlimmste Monat des Jahres.
Erzähl mir keiner was von Adventszeit.
Ich kann im Moment nicht in Worte fassen, wie unsagbar wütend ich bin, und an Worten besteht bei mir eigentlich kein Mangel. Wütend auf diese Klinik. Wütend auf eine Politik, die ihr Ohr lieber Vollidioten als Experten leiht und damit die desolate Situation im Infektionsgeschehen verantwortet. Wütend auf ein Schicksal, das gerade die, die 2020 besonders viel einstecken mussten, noch einmal in den Magen tritt. Wütend, dass es keinen interessiert.
Um es kurz zu machen: Meine Mutter muss auf behördliche Anweisung Heilig Abend alleine feiern. Na, sagen wir lieber „verbringen.“ Oder treffender „absitzen.“ Möge der 24. möglichst schnell vergehen.
Man sollte denken, dass edle Rehakliniken am See ein funktionierendes Hygienekonzept haben. Und vielleicht wäre ich gegenüber einem überforderten städtischen Krankenhaus mit einer überquellenden Intensivstation milder in meinem Urteil, aber wenn man im Foyer der Federseeklinik Bad Buchau steht, dann befindet man sich eher in einem hochpreisigen Architekturwettbewerb als in der optischen Repräsentanz der Gesundheitskrise.
Und in dieser idyllischen Kurklinik absolvierte meine Mutter bis gestern morgen eine Reha-Maßnahme nach einer Knie-Operation Ende November. Eben jene Frau, die im August nach 49 Jahren Ehe meinen Vater verlor, sich nun alleine in die Hände der Chirurgen gab, und hoffte, dass durch ein neues Kniegelenk ihr Leben wenigstens wieder ein bisschen besser wird.
Am 15.12. wies man meiner Mutter aus Gründen, die die Klinikleitung sicher irgendwie hatte, ein anderes Frühstückscluster als in den anderen Wochen zu, weil ja der Frühstücksraum des Klinikums es aus Infektionsschutzgründen erforderlich macht, dass die Patienten in drei Schichten essen. Während dieses Frühstücks setzte sie sich zu einer ihr bisher unbekannten Frau an den Tisch, der Abstand der Bestuhlung lag unter 2 Meter. Zum Essen legte sie ihre Maske ab.
Am 17.12., also gestern ruft mich meine Mutter Morgens weinend an. Man habe sie aus dem Frühstücksaal geholt, sie dürfe ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Die fremde Frau war infektiös. Ein Antigen-Schnelltest sei nach mündlichen Aussagen des Gesundheitsamts Biberach negativ verlaufen (gottseidank), man empfehle nun eine 10-tägige Quarantäne, über die aber aus Gründen, die sicherlich irgendwo bekannt sind, nur die Gesundheitsbehörde der Stadt Ulm entscheiden könne. Meine Mutter befürchtet 10 Tage in dem kleinen Patientenzimmer quarantiniert zu werden.
Eine Stunde später ruft mich die Schwester an, ich könne meine Mutter abholen, Reha-Maßnahmen wären ja nun ohnehin nicht mehr möglich. Gut, dass wir jetzt den Lockdown haben und dass Baden-Württemberg auch den Online-Unterricht bis auf die Abschlussklassen abgeschafft hat, dann kann ich mich nämlich jetzt, nachdem ich meinen 11ern per Microsoft Teams etwas über Oppostion im Vormärz erzählt habe, auf die zweieinhalbstündige Fahrt nach Bad Buchau am Federsee machen, um meine Mutter abzuholen. Irgendwie habe ich im Architekturpreisforum der Klinik das Gefühl, man ist froh, dass ich sie abhole.
In der Ulmer Wohnung meiner Eltern angekommen hört meine Mum pflichtbewusst erst einmal ihren AB ab. Neben telefonischen Knie-Genesungswünschen von Freunden meldet sich eine Dame im Auftrag der Stadt Ulm, die um einen dringenden Rückruf bietet. Diese Dame teilt meiner zunehmend traurigen und wütenden Mutter dann während des Rückrufs mit, dass ihre hiermit angeordnete Quarantäne am 26.12. um 00:00 Uhr endet.
Nein, da könne man bedauerlicherweise nicht machen. Ja, das mit dem Tod des Mannes täte ihr leid. Nein, sie müsse den Heiligen Abend „leider Gottes“ alleine verbringen. Nein, eine Verkürzung der Quarantäne durch Tests sei nicht vorgesehen. Sie wisse auch nicht, warum man Ihrem Sohn erlaubt hätte, sie abzuholen und mit ihr zwei Stunden im Auto zu sitzen. Sie wisse auch nicht, warum ihr Sohn zwei Tage nach 90 Minuten mit zwei infizierten Kindern in einem Raum sich wieder in ein Klassenzimmer habe stellen dürfen/müssen, aber sie müsse nach dem Kontakt während des Frühstücks jetzt in Quarantäne. Aber man solle doch lieber hoffen, dass sie nicht krank werde oder noch jemand anders aus der Familie eventuell anstecke. Als Idee: Man könne Heilig Abend ja auch über Zoom feiern. Und falls sie einen Garten vor dem Haus habe, dürfe sie sich in dem aufhalten.
Es ist Dezember und meine Eltern wohnen seit jeher im Hochhaus.
Ich glaube das steht im Handbuch für Psychologiestudent*Innen für den Fall, dass Menschen in seelischen Nöten sind. Erzähle ihnen „das sei leider halt so“ und male ihnen ein noch schlimmeres Szenario an die Wand. Das hilft ihnen erwiesenermaßen, dann geht es Ihnen gleich besser.
Wir stehen also in der nach vier Wochen wieder zum ersten Mal betretenen Wohnung meiner Mutter, sie mit Krücken und leerem Kühlschrank und eigentlich müsste ich sie jetzt sofort alleine lassen.
Am Arsch tue ich das.
Jetzt wird es kompliziert: ich unterstütze die Covid-Maßnahmen, finde, dass zu lasch und zu halbherzig reagiert wurde, dass das überhaupt der Grund ist, warum man das Land in diese beschissene Situation geritten hat, weil die Politik Partikularinteressen, Wirtschaftsverbände, Esotheriker und eine ethisch falsche Güterabwertung bediente, anstatt Verantwortung für ihre Wähler*innen zu übernehmen. Aber meine Mutter jetzt alleine lassen?
Am Arsch tue ich das.
Natürlich mache ich ihr erst einmal den Kühlschrank mit Lebensmitteln voll, und trage einen Kasten Sprudel aus dem Keller, in den sie ja jetzt nicht kommt, weil das Knie noch nicht ganz mitmacht, und sie in einem Hochhaus wohnt, und nicht die Wohnung verlassen darf.
Auf der Heimfahrt – ich muss mich sputen, dass ich es vor der Ausgangssperre schaffe – höre ich in den SWR-Nachrichten meinen ländlichen Sozialminister Weihnachten retten, einen gewissen Herrn Dr. Federle. Er stellt 80.000 Schnelltests zur Verfügung, damit sich Angehörige von Risikogruppen vor dem Fest testen lassen können. Er sagt folgenden Satz in die versammelte Presse: „Kein Mensch sollte das Weihnachtsfest einsam und alleine zu Hause verbringen müssen.“ Applaus.
Ich verwette schöne Körperteile darauf, dass das für meine Mutter nicht gelten wird.
Es ist jetzt 05:12 Uhr am 18.12., seit 4.00 konnte ich nicht mehr schlafen. Zuletzt ging mir das in der Nacht des Todes meines Vaters so. Ich weiß gar nicht auf wen ich alles gleichzeitig extrem wütend bin. Auf die Landespolitik, die monatelang gebremst und mit Menschenleben gepokert hat, und die aus meiner Sicht vor allem für die hohen Infektionszahlen die Verantwortung zu übernehmen hat, was sie aber nicht tut. Auf eine Schicki-Micki-Reha-Klinik, die keine überfüllte Notaufnahme oder Intensivmedizin hat, und es trotzdem nicht hinkriegt, ihr Haus Covid-19-frei zu halten. Auf ein System, das einer alten Frau, die 2020 schwer gebeutelt wurde, keine Lösung anzubieten hat.
Meiner Mutter wäre dieses Weihnachten sehr wichtig gewesen. Fick dich Dezember, verreck endlich.