Achim Vetter
Tannenbergstr. 88
70374 Stuttgart
An:
Federseeklinik
Am Kurpark 1
88422 Bad Buchau Stuttgart, kurz vor Weihnachten 2020
Liebe Federseeklinik in Bad Buchau,
dies ist ein Weihnachtsbrief. Ich schreibe ihn in Gedanken an meine Mutter, die in Ihrem Hause zu Gast war, vom 30. November bis zum 17. Dezember, ja, in der Adventszeit. Sie merken vielleicht an den Daten, dass ihr Aufenthalt für eine Reha-Behandlung nach einer Knie-OP in Ravensburg etwas verkürzt war, aber dazu gleich später mehr.
Meine Mutter hat kein leichtes Jahr hinter sich. Wir alle haben das ja vermutlich 2020 nicht – dazu aber auch gleich später mehr – aber meine Mutter verlor zusätzlich im August meinen Vater, Lungenkrebs, den Mann, mit dem Sie im Januar 50 Jahre verheiratet gewesen wäre und mit dem sie 49 Jahre lang Weihnachten feierte. Danach und nach der Pflege meines Vaters war ihr Knie im Eimer und sie konnte kaum noch gehen. So enschloss sie sich, trotz Covid-Krise, die ihr ärztlich empfohlene Knie-OP anzugehen. Möglicherweise war das ein Fehler.
Am 14. Dezember veränderten Sie offensichtlich einmalig Ihre bis dato festen Frühstücksgruppen. Als Lehrer weiß ich, dass wir Schulen den Auftrag haben, unsere einmal gebildeten Lernkohorten aus Infektionsschutzgründen keinesfalls zu vermischen, aber meine Mutter ist es gewohnt auf die Kompetenz von Ärzten und Fachpersonal zu setzen und stellte sich an diesem Morgen keine großen Fragen. Während des halbstündigen Frühstücks kam sie an einem Tisch mit einer ihr völlig fremden Dame zu sitzen, mit der sie gemeinsam ihre Mahlzeit einnahm.
Diese Dame hatte Covid-19.
Nun hatten Sie ja als verantwortungsvolle Klinik alle Patient*Innen vor dem Eintritt in ihr Haus zu einem Test verpflichtet und auch die Organisation Ihrer Kontaktzonen folgte einem genehmigten Hygienekonzept, da es ja unerlässlich wichtig ist, dass es in einer Klinik voll älterer und frisch operierter Menschen zu keiner Infektionskette kommt. Und natürlich können in der momentanen Lage viele Krankenhäuser mit überfüllten Intensivstationen und Notaufnahmen oft diese medizinisch gebotene Sicherheit nicht bieten, aber als Kurklinik haben Sie ja gottseidank diese Überforderungssituation ja auch gar nicht. Und irgendwie hat das Christkind dennoch irgendwie das Virus unter Ihre geschmackvolle Weihnachtsdeko gelegt.
Nachdem ich also zwei Tage später meine weinende Mutter frühzeitig aus Ihrer Klinik abholte – das Gesundheitsamt war übrigens verwundert, dass mir das von Ihrer Seite erlaubt wurde, bei den geltenden Vorgaben des RKI – nachdem also wir in der Wohnung meiner Mutter in Ulm wieder angelangt waren, wurde ihr telefonisch eine Quarantäne angewiesen, und zwar bis zum 26.12. um 0.00. Es war meiner Mutter durch die Behörden nur schwer zu vermitteln, warum ein Lehrer in Baden-Württemberg nach 90 Minuten mit zwei Infizierten in einem engen Raum voll mit Schüler*innen nach zwei Tagen wieder ins Klassenzimmer geschickt wurde, aber eine Witwe nach 30 Minuten mit einer Person volle 10 Tage in Ihre Wohnung im Hochhaus muss.
An dieser Stelle kommen wir zu Weihnachten, zu Heilig Abend, liebe Federseeklinik. Sicherlich sind Sie und Ihre Mitarbeiter froh, wenn Sie diesen Abend mit ihren Kindern und ihrer Kernfamilie verbringen können, nachdem Sie die Kontaktperson so schnell losbekommen haben. Nun, Sehen Sie, meine Mutter wird nun den Heilig Abend im Gegensatz zu den meisten von Ihnen alleine verbringen. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Es war sicherlich kein leichtes Jahr für Sie als Klinik, aber für meine Mutter schon gar nicht.
Weihnachten ist ja das Fest der menschlichen Zuneigung, der christlichen Tat, und ja, auch das Fest der Versöhnung. Den letzten Begriff möchte ich einer im katholischen Oberschwaben (wo ich lange Jahre unterrichtet habe) liegenden Klinik ganz besonders ans Herz legen. Meiner Mutter war es übrigens auf der Heimfahrt besonders wichtig, dass all die kleinen Schokoladentäfelchen, die sie zum Abschied noch für Pfleger*Innen und Personal in Ihrem Haus besorgt hatte, ihre Empfänger erreichen, sie legt auf derlei Anständigkeiten sehr viel Wert.
Ich finde, meine Mutter hat für all die seelischen Qualen, die aus ihrem Frühstücksraum resultieren, eine kleine Wiedergutmachung von Ihrer Seite verdient. Sie finden Sie unter folgender Postanschrift (müsste sich auch in Ihren Akten finden, aber für Ihre Bequemlichkeit):
U. Vetter
[…]
Nun, jetzt liegt es an Ihnen.
Gerne dürfen Sie mein Schreiben in Ihrem Haus verbreiten – falls Sie den Mut dazu fassen. Vielleicht erinnern sich ja noch einige an Frau Vetter. Sie finden diesen Brief auch auf meinem Blog (www.einjahrraus.org) und auf Twitter.
Mit diesen Gedanken, die vielleicht auch zur adventlichen Besinnung ihrer Klinikangehörigen führen, möchte ich nun meinen Weihnachtsbrief schließen. Ich wünsche allen Menschen in Ihrer Klinik weniger traurige Weihnachten, als sie unsere Familie haben wird.
Mit weihnachtlichen Grüßen
Ihr Achim Vetter