Neckarstraße, Urbanstraße und weiter nach Südwesten trinken.
Für die neuesten Abschnitte der Tour nach unten scrollen. 🙂

Es gibt noch Achsen durch Großstädte, die abseits der hippen Partyzentren und gefönten Szene-Locations liegen, an denen man entlang noch eine gewisse Diversität und Originalität entdecken kann. Diese Achsen sind nicht hübsch, nicht designed und stellenweise nicht einmal renoviert, aber sie verströmen ein gewisses Feeling.
Mein sehr guter Freund und Tresenkumpel Ulrich, der sichtlich etwas angenervt davon war mit der usual crowd am usual spot zu enden, entwickelte im Sommer letzten Jahres das Projekt, sich an einer dieser Nebenachsen entlang zu trinken, immer ein Bier pro Kneipe, und dann zu sehen, wohin man kommt. Saugute Idee! Unsere Spur beginnt nicht unweit des Neckars und führt dann grob südwestlich einmal durch den Kessel.
Ich muss sagen, dass diese Entdeckungstour über Stuttgarts Barhocker abseits der ausgetretenen Pfade mir sehr große Freude bereitete. Auch wenn wir das Projekt immer nur mit einigem Abstand weiterverfolgen, führt es uns doch zu spannenden Entdeckungen und zu einem sicheren Kater am nächsten Morgen. Ich will die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, diese Sauftouren hier zu dokumentieren und einen völlig subjektiven alternativen Kneipenführer aufzulegen, zur gefälligen Beachtung von allen Stuttgartern und Gästen, die nach dem „echten“ Stuttgart abseits vom Hans-im-Glück-Brunnen suchen.
Die drei Regeln der Tour:
Erstens: In jeder Kneipe nur ein Bier
Zweitens: Wir nehmen jede Location, die von außen minimal akzeptabel wirkt (Gummiparagraph)
Drittens: Wenn wir besoffen sind gehen wir nach Hause.
Die erste Tour: September 2019, von den Mineralbädern zum Stöckachplatz
Station 1.1: Flora & Fauna, Schlosspark, ggü. Mineralbäder.

Als willkürlichen Startpunkt hatten wir uns kurz nach den Sommerferien das „Flora und Fauna“ ausgesucht, im Grunde nicht viel mehr als ein Pavillion gleich neben der U-Bahn-Haltstelle. Die Location ist etwas schwer zu beschreiben, es ist nicht ganz Biergarten, nicht ganz Lokal, nicht ganz Weggehszene, das Publikum ist für einen Biergarten zu jung und urban, der Bierfluss für ein Lokal zu üppig, für einen Szeneschuppen das Konzept zu unzeitgeistig. Der Laden war gut voll (ich glaube, es war ein Freitag), wir hatten uns über die Ferien nicht gesehen und viel zu quatschen. Also verstoßen wir gleich gegen Regel Eins: Pro Kneipe nur ein Bier! Wir trinken zwei, das geht im Flora und Fauna auch gut und wird sich noch rächen.
Station 1.2: Café Dream Bar, Neckarstraße

Ab hier begann sie, die ungeliebte Neckarstraße, das hässliche Entchen, das zum SWR-Gebäude und weiter führt, in dessen Mitte die Straßenbahn scheppert (In Stuttgart etwas großkotzig „U“ genannt) und der Verkehr sich schiebt. Wir folgen der Regel Nr. 2, bis jetzt kam auf dem ersten Kilometer nicht viel außer ein Thai-Restaurant und eine Shisha-Bar. Also landen wir im „Café Dream Bar“, einer Kneipe, die sicher eine ziemliche Tradition hat (rustikale schwäbische Wirtshausarchitektur), wenn auch eventuell nicht unter dem aktuellen Pächter. Sie ist noch nicht mal auf Google Maps verzeichnet, ungentrifizierter geht’s also nicht. Ulrich und ich steuern die Bar an, wie es sich für eine Kneipentour gehört, und werden sofort von dem unbestimmten Gefühl einer gewissen Exotik, einem Eindruck von kulturellem Exil umfasst. Die freundliche Dame hinter dem Tresen lächelt uns mit diesem Blick an, der sagt: „Ich weiß nicht, wie ihr euch hierher verirrt habt, aber schön, dass ihr uns gefunden habt.“ Während der dritten Halben an diesem Abend (es zeigt seine Wirkung) rätseln wir über den Standort der schmachtenden Musik aus dem Lautsprecher, der kehligen Sprache und der dunkelhaarigen Locken um uns. Schließlich beim Zahlen fragen wir mutig: und siehe da, die meisten hier sind Griechen, anscheinend aus der Ecke um Thessaloniki. Na, dass ich das nicht erkannt habe … Griechischer Wein 2019. Weiter geht’s, bei zwei Tresen können wir es nicht belassen, das wäre ein peinlicher Start.
Station 1.3: Bonnie & Clyde, Neckarstraße

Im Wissen, dass der nächste Humpen ziemlich sicher unser letzter für den Abschnitt sein wird, entdecken wir zwischen Metzstraße und Stöckach das „Bonnie & Clyde“, in der Kneipenszene offensichtlich kein gänzlich Unbekannter, für uns beide aber neu. Innendrin empfängt uns gepflegte alternative Atmosphäre, nicht Mainstream, aber unprätentiös. Den Zapfhahnturm bedecken Aufkleber diverser Bands, Spezialität sind hier anscheinend Burger, eine Schale mit Gummibärchen lädt zum nebenher futtern ein. Publikum wirkt sehr sympatisch, die Musikauswahl auch. Schade, dass wir schon so betrunken sind. Wir leeren unsere Krüge, zahlen und gehen heim. Ende Teil 1.
Die zweite Tour: Dezember 2019, vom Stöckachplatz zum Charlottenplatz
Station 2.1: Bonnie & Clyde, Neckarstraße

Am Sonntag vor Weihnachten gehen wir die Fortsetzung unseres Querschnitts an. Da wo man im Herbst aufgehört hat muss man im Winter wieder starten, so das eherne Gesetz der Kneipentour. Außerdem ist das Bonnie & Clyde auch nüchtern nochmal einen Besuch wert. Ambiente, Publikum, Musik – check. Bisher der schönste Tresen auf der Tour. Diesmal bleiben wir aber eisern bei der Regel – jeder Laden nur ein Bier. Man lernt aus seinen Fehlern und zieht hinaus in die vorweihnachtliche Kälte im Kessel. Ich bin mir sicher, der Winterabschnitt unseres Querschnitts wird uns relativ schnell wieder in irgend eine Location treiben, ab hier beginnt das thekentechnische Neuland.
Station 2.2: Super China & Pizza Service, Neckarstraße

„Kuck mal, das ist ja fast schon ein Späti!“ ruft Ulrich mit der tiefen inneren Liebe in der Stimme aus, die nur der Schwabe zustande bringt, wenn er etwas Berlinähnliches entdeckt. Tatsächlich offenbaren drei Kühlschränke und mehrere Regale ein relativ üppiges Getränke- und Süßkramangebot. Ich bin von den kalten Neonkacheln in dem Lieferdienstkabuff weniger überzeugt, aber Uli erinnert mich eisern an Regel Nummer 2. Also trinken wir zwei thailändische Nulldrei, während der etwas bullig wirkende Pizzaservicechef in einer nicht erkennbaren Sprache am Telefon auf seine Fahrer einbrüllt. Diesmal fragen wir nicht nach, es klingt ein wenig so als keifen Rote Khmer auf vermeintliche Feinde des Kommunismus ein. Gegen später kommt noch ein Typ mit Iro, südländischem Teint und Tarnfleck-Pulli dazu. Gemütliches Bier ist anders, aber mehr unprätentiöse Unverfälschtheit ist in Stuttgart vermutlich nicht zu bekommen. Alle wirken froh, als wir gehen.
Station 2.3: Kraftpaule, Kreuzung Neckarstraße/Heilmannstraße

Kontrastprogramm und Kulturschock in Megawattstärke. Der „Kraftpaule“ ist ein Craftbeer-Edelschuppen, der von unserem innigen Wunsch das Authentische zu finden nicht weiter weg sein könnte. Dafür sitzt man an der Bar gemütlicher als man im Pizzaspäti herumsteht und das Fräulein hinter der Theke ist sehr nett. Wir sind auch die einzigen, die an der Bar rumhängen, der Laden ist einigermaßen gefüllt, aber alle hocken gesittet an Designer-Bistrotischchen. Wir schlürfen ein Bier aus nem Cognag-Schwenker zu Cognac-Literpreisen und ich betone, wenn die Barfrau gerade nicht hinhört, sequenzergleich, wie sehr ich diese Craftbeer-Scheiße eigentlich verachte. Dafür ist das Zeug ziemlich stark, wir erreichen mit dem Kraftpaule das Stadium des Besoffenseins und ziehen zu unserer letzten Station für heute – wo immer sie liegen mag. Shit, das Craftbeer war tatsächlich lecker, so was Dummes.
Station 2.4: Goldmarx, Charlottenplatz

Die Urbanstraße ist ewig lang und führt an zahlreichen höheren Bildungsanstalten vorbei, was heißt, dass hier kein Geld zu holen ist, was sich in der Abwesenheit von Kneipen äußert. Uli erzählt mir von Erlebnissen auf der hiesigen Musikhochschule, eine private Weihnachtsfeier in einem beheizten Partyzelt winkt hastig ab, als wir zwei grinsende Gestalten durstig darauf zu wanken. Schließlich landen wir im „Goldmarx“ in der Unterführung am Charlottenplatz, in dem wir beide schon mal bei einem Konzert waren, mit angenehmen Erinnerungen an die Band und den Tischkicker. Das Goldmarx“ rangiert irgendwo zwischen Club und Veranstaltungsschuppen.
Am Eingang raunt Uli irgendetwas von „Holla ist da etwa Black Night?“, aber bevor ich das verarbeiten kann stehen wir vor dem Türsteher, der uns mitteilt, dass der Eintritt eigentlich 10 Euro ist, aber uns würde es nur noch zwei Euro kosten. Für beide.
Lachend bewerfen wir die Security mit zwei Euro (natürlich nur innerlich) und stehen dann – in der Black Night. Das ist wörtlich zu nehmen. Es gibt nämlich keine Weißen hier. Also, außer Ulrich und mich, alle anderen hier sind People of Colour. Als Resultat stehen wir beide als die weißesten Weißbrote, die jemals krustenfrei aus dem Ofen kamen, an der Bar und fühlen uns endlich einmal als Minderheit. Das ist heilsam. Die Stimmung scheint am Siedepunkt zu sein, alle rennen wild zu den dröhnenden Beats durch den Stagebereich, eine ganze Horde von DJs und MCs produziert einen echt tanzbaren Sound. Von Madagassen, Senegalesen bis Kariben scheint sich hier alles zu versammeln, was dunkle Hautfarbe hat. Punkt 12 – es ist ja Sonntag – macht das DJ-Team so plötzlich Schluss, als habe man der Veranstaltung dem Stecker gezogen. Bis Ulrich vom Klo zurückkommt ist der Laden wie leergefegt, wir kapieren plötzlich, warum man uns vor einer halben Stunde „nur noch“ einen neuen Heiermann abverlangte. Aber gut so: Denn wir sind wieder pegeltechnisch am Point oft Return und schlingern zur Haltestelle. Bis zur nächsten Tour.
Denn das kann noch nicht das Ende des Kessels sein! To be continued in 2020 …
Die 3. Tour: Juni 2020, vom Charlottenplatz bis zum Österreichischen Platz
Eine Corona-Krise später sitze ich wieder in der U-Bahn, um mit Expeditions-Compagniero Numero Uno unsere Entdeckungsfahrt fortzusetzen. Beim letzten Mal war alles vorweihnachtlich, jetzt ist Frühsommer, ausgebremst von den Maßnahmen. Die Regeln sind klar, die Ziele auch, wir wollen kneipologisches Neuland betreten, die ausgetretenen Weggeh-Pfade erweitern und ungehobene Perlen im Stuttgarter Tresenmeer entdecken. Die Kneipen haben längst wieder auf, unter etwas anderen Bedingungen als zuvor, aber sind wir ehrlich: nach einer Halben merkt man den Unterschied zu sonst gar nicht besonders.
Es ist ein schwüler und gewittriger Abend in der City. Uli bemerkte auf meine Regenwarnung hin, dass das ihm egal sei, so lange keine Pflastersteine durch die Luft flögen. Ach ja, da war ja noch was. Es ist genau eine Woche her, dass Stuttgart, in der Berichterstattung gerne mit der Journalismus-Phrase „beschaulich“ beschrieben, zum Epizentrum der auf keiner Seite ideologiefreien Diskussion um Gewalt in unserer Gesellschaft wurde. Die Bilder gingen durch die Republik, die Zahl der demolierten Innenstadt-Geschäfte war hoch.
Wir wollen es trotzdem wagen.
Exkurs, kann man auch überscrollen:
Warum Stuttgart? Warum die Landeshauptstadt mit den Geranienkästen, den gefegten Bürgersteigen und dem Ruf, das Langweiligste und Ödeste zu sein, was man je in einen Talkessel gebaut hat? „Wow, Stuttgart“ war auch meine erste Reaktion, bis mir klar wurde, dass man in dieser Stadt eine jahrzehntelange Geschichte von Gewalt, Hass und Aufruhr entdecken kann, wenn man nur hinter die „beschaulichen“ Fassaden blickt. Das ging nämlich schon los mit – Achtung, Trigger – „Stuttgart 21“, wo neben honorablen Umweltschutzorganisationen, und Leuten, die der Bahn ihren eigenen Wolkenschloss-Irrsinn richtig rechneten, plötzlich Rentner in teuren Outdoorjacken und mit hassverzerrten Gesichtern in den Demos auftauchten, die gegen „die da oben“ mehr hetzten als argumentierten. Wer erinnert sich noch, dass der Begriff des „Wutbürgers“, der nahtlos in den „besorgten Bürger,“ der Flüchtlingsbusse mit Steinen bewirft, überging, aus Stuttgart stammt? Wer erinnert sich noch an die Ereignisse vom Schlossgarten, den „schwarzen Donnerstag“ von 2010, als Opas Kastanien auf Polizisten schmissen und die ach so beschauliche schwäbische Polizei mit einer erschütternden Brutalität antwortete, die bundesweit für Diskussionen sorgte und für den Untergang eines sattelfesten CDU-Ministerpräsidenten?
Auch das ist Stuttgart. Stuttgart, die Stadt, in der ein Hells Angel 2011 einen SEK-Polizisten durch seine Wohnungstür erschießt und dafür einen Freispruch bekommt. Die Stuttgarter Spezialkräfte hatten sich beim Aufbrechen der Wohnungstür nämlich nicht zu erkennen gegeben.
Oder erst kürzlich: Stuttgart, der Cannstatter Wasen als Kulminationspunkt für die größte nationale Ansammlung von Corona-Skeptikern, Verschwörungs-Mythikern und Hetzvideo-Produzenten. Auch da, alle so: Krass Stuttgart. Und jetzt die Instagram-Videos der Aussschreitungen, ausgehend vom Schlossgarten. Das finden jetzt alle noch viel krasser als Rocker mit rauchenden Knarren, Rentner mit Straßenkämpfer-Attitüde, überbrutale Polizeikräfte oder rechtsradikale Grüppchen auf der Wasen-Demo. Warum eigentlich?
Wenn ich mir die Videos ansehe, dann sehe ich da auch meine Schüler. Klamotten, Geste, Haltung, das entspricht einer kleinen Gruppe (männlicher. Wiederhole: männlicher) Jugendlicher, die quer durch kulturelle Hintergründe und Schulabschlüsse hindurch nachts hinter der Schule herumhängen, aus Boom-Boxen inspirationslosen Trap-Rap hören und dazu Wodka, Red Bull und Härteres konsumieren. Kids, die keine Perspektive haben, die in ihren Klassen eine Sonderstellung einnehmen, die Gangster sein wollen, Kids, die keiner ernst nimmt, die jetzt endlich mal zeigen können, das man sie, als Gangster, ernst nehmen soll. Die sich seit zwei Monaten im Schlossgarten gegenseitig hochpuschen, weil in der Krise alle bedient wurden, nur die Jugend, die wurde vor lauter Sorge um die Alten vergessen.
Bullshit.
Am anderen Ende eine Polizei, bei der man sich nicht wundern muss, dass man seit 20 Jahren den Respekt verliert, in der Ausbilder seit 20 Jahren über den Qualitätsgrad der Berufseinsteiger jammern, weil kaum ein vernünftiger junger Mensch in den Verein will, die völlig kaputtgespart ist, in der man täglich neue rechtsradikale Netzwerke entdeckt (warum eigentlich nie Kommunisten, komisch …), die in Hamburg (aber es waren Berliner Polizist*innen) besoffen öffentlich kotzt und fickt, in Leipzig gestohlene Fahrräder heimlich auf Auktionen verkauft, um sich zu bereichern.
Und jetzt regen sich alle auf? Und jetzt sind alle wieder überrascht? Echt? Ihr Deppen.
Den das Böse, die Brutalität, das Verbrechen lauerte schon immer da, wo Geranienkästen besonders üppig, Hausfassaden besonders sauber, Rasenflächen besonders akkurat sind. Das wussten schon Agathe Christie und Alfred Hitchcock und daran hat sich noch nie etwas geändert. Natürlich ist Stuttgart für viel mehr Gewalt und Wahnsinn gut, als vermeintlich wildere Städte.
Exkursende. Uli und ich beschließen jedenfalls Königsstraße und Schlossplatz zu meiden, wir sind erstens schlecht im Wegrennen und zweitens hat noch nie jemand etwas Cooles in Schlossgarten und Königsstraße entdeckt und zwar schon vor den Krawallen nicht.
Station 3.1: Goldmarx, Charlottenplatz

It has to start where it ended und eine Bar direkt neben der U-Bahn ist ein sehr gut geeigneter Ort für beides. Welch ein Unterschied zum Dezember. Statt beatlastiger Rhythmen in einer dunklen Tanzbar wie beim letzten Mal haben sich Goldmarx und Universum nun zusammengetan und einen Outdoor-Ausschank unter dem U-Bahn-Stations-Dach organisiert. Da sitzt man recht gemütlich, wenn auch etwas biergartig-bunkermäßig. Es gibt Augustiner aus der Flasche und noch einen Platz an einem Tisch mit drei älteren Jungs, also älter im Sinne von meinem ältere-Jungs-Sein. Während wir trinken und labern versuche ich den Infektions-Nachverfolgungszettel auszufüllen und finde beim besten Willen keinen Hinweis auf die Tischnummer, für die es aber ein Formularfeld gibt. Die drei Jungs meinen es sei Tisch Nummer 11, also schreibe ich gleich mal mit dem Kuli eine große 11 auf den Biertisch. Erste Navigations-Entscheidung: Wir sollten die Hauptstätter Straße vermeiden, weil man die schon viel zu gut kennt. Außerdem versprechen das Bohnen- und Heustiegviertel auch in zweiter und dritter Reihe gute Treffer. Ich votiere dafür, Adresszettel und zwei Bierflaschen (von mir als „der ganze Scheiß“ pauschal verunglimpft) einfach auf dem Tisch stehen lassen, Uli, als moralischere Hälfte des Projekts, möchte sie persönlich zurückgeben. Dafür wird er von der Security angeschissen, weil er sich ohne Maske der Getränkeausgabe nähert. Als Ausgleich gibt es aber noch tatsächlich Pfand. Good Karma, bad Karma.
Station 3.2: Taverne Diogenes, Olgastraße

Nachdem wir eine Sushi-Bar, einen Italiener und einen Laden, der „Zauberlehrling“ heißt und Gentrifizierung blutet als nicht den Suchkriterien entsprechend abgelehnt haben, finden wir diesen entzückenden kleinen Griechen, der fast leer ist. Die Wirtin lässt uns auch gerne nur ein Bier trinken, weist uns aber daraufhin, dass es laut sein könnte. Damit meint sie die einzig anderen Gäste um halb 10 hier drin, drei Jungs um die vierzig, die ungemein angetrunken und witzig sind, und eine etwas jüngere Frau, die sich gleich mal entschuldigt. Die interessehalber studierte Speisekarte besteht aus 12 Vorspeisen, vier Hauptgerichten und Nachtisch, und damit sieht das alles hier ziemlich nach griechisch-griechisch und nicht schwäbisch-griechischer-Art aus. Ich beschließe, hier mal essen zu gehen. Am Ende nehmen wir gegen die Vorschriften noch einen kleinen Ouzo zu uns, das ist ein Regelbruch, aber die Erinnerung an gemeinsame Griechenland-Unternehmungen zwingen Uli und mich dazu. Der Ouzo ist hervorragend.
Station 3.3: Schwarz Weiß Bar, Wilhelmsstraße

Die Bar wirkt klein, ist aber draußen gut mit Gästen bestückt, die alle ganz angenehm wirken. Wir wagen es. Drinnen gibt es zur Zeit keinen Service, aber eine sehr freundliche Kellnerin meint, draußen würde der Hauseingang gleich frei werden. Alleine die Ausweitung des Servicebereichs auf die Treppe des nebenliegenden Hauseingangs strahlt so viel Sympatie aus, dass wir uns sofort für besagten Hauseingang bewerben. Die Marmortreppe ist genau breit genug für zwei Personen und sehr bequem. Die uns dargereichte Cocktailkarte triggert mit Gin-Ingwer-Kombinationen meinen übersensiblen Hipster-Alarm, aber selbstverständlich serviert man uns auch zwei proletarische Halbe, das mildert den Eindruck. Seltsam: Die Karren, die hier herumfahren, sind für die wenig glamoröse Wilhelmsstraße erstaunlich dick und protzig befelgt. Egal, die Bar bekommt das Prädikat „ziemlich sympathisch.“
Station 3.4: Le Petit Coq, Hauptstätterstraße

Als wir uns zu späterer Stunde aus unserem Hauseingang schälen ist uns beiden klar, dass die nächste Station wohl die letzte sein wird. Und wir landen, alle guten Vorsätze in den Wind schlagend, am Ende doch an der Hauptstätter Straße. Aber vor dem „Le Petit Coq“ (das man nur mit „kleiner Hahn“ übersetzen darf und mit nix anderem!) stehen zwei gewaltige alte Ohrensessel, die einfach danach schreien, hier bequem das letzte Bierchen des Abends zu zischen. Auch diese Bar ist zu klein für Innenservice, im Grunde besteht sie nur aus einem langen Tresen mit hübscher, wenn auch leicht prätentiöser Seidentapete. Wir ziehen ein erstes Fazit, die heutige Verlängerung des Querschnitts brachte uns durch die Bank gute, wenn für diesmal auch keine obskuren Funde. Und wo waren die Krawalle? Während wir das reflektieren zieht eine Karawane von 25 Jugendlichen die Hauptstätter Straße entlang und durch die Außenbestuhlung. Ich erkenne alle Schattierungen kultureller Diversität, einen verbindenden Grad an Berauschtheit und, das Seltsamste, wie wir beide feststellen: Sie wirken als hätten sie ein klares Ziel, auf das sie zusteuern. Ist dass die gefährliche Feierszene von Stuttgart?
Auf dem Weg zur U-Bahn biegen wir um eine Ecke und stehen vor zwei großen Polizeipferden mit gepanzerten Reitern. Der Moment wirkt wie eine Szene aus einem Mittelalterfilm, da ist sie also, die Problematik des Moments. Am nächsten Morgen meldet die Polizei dann auf Twitter: Die Nacht sei völlig ruhig verlaufen.
Teil 3 des Projekts abgeschlossen und immer noch in Stuttgart Mitte – es ist kein Ende in Sicht und das ist gar nicht schlimm.
Die 4. Tour: Juli 2021, vom Bohnenviertel und es bleibt auch im Bohnenviertel
Über ein Jahr dauert es, bis Uli und ich den Querstich wieder aufnehmen. Pandemiewellen bremsen uns aus, kein Mensch weiß, ob die Kneipen, die wir am Anfang unserer goldenen Linie aufgenommen haben, auch noch am Ende dieser Geschichte in vielen Kapiteln Bier ausschenken oder längst gestorben sind. Aber die Reise an sich steht natürlich immer im Vordergrund, die Regeln sind klar, die Sneaker geschnürt und das ÖPNV-Ticket bereit zum Stempeln. Und natürlich erweckt die bevorstehende Süd-West-Passage ganz besondere Vorfreude, denn wir durchstechen das Stuttgarter Bohnenviertel, wo sich alt-eingesessene Rotlicht-Szene, Rocker-Milieu und klebrige Früh-Gentrifizierung zu einer unnachahmlichen Melange verdichten.
Station 4.1: Home of Kebap, Esslinger Straße.

Jaja, ich weiß ja, ein Kebap-Schuppen, wie originell ihr zwei Trend-Scouts aus dem Bildungsbürger*Innen-Sumpf. Aber wir zwei hatten einfach vor der Tour Hunger, und das symbolische Wullenulldrei bekommt man auch hier. Man kann draußen auf Bierbänken herumlungern, mein Falafel-Teller ist ordentlich und man hat vollen Blick auf das Treiben entlang der Hauptstätter-Straße. Das Le Petit Coq hatte heute Ruhetag, deswegen können wir nicht da starten, wo alles vor einem Jahr endete, ob die beiden Ohrensessel noch auf der Straße stehen bleibt also ein Geheimnis. Es ist ein ziemlich frischer Sommerabend. Uli schwärmt vom Bohnenviertel und einem Pop-Up-Pub im Züblin-Parkhaus, den es geben soll. Ich finde es riecht schon wieder nach Hipster, komme aber trotzdem mit.
Station 4.2 KULTUR-KIOSK, Parkhaus Züblin, Lazarett-Straße.

Uli hatte völlig recht: This is as cool as Stuttgart gets. Also nicht sehr, aber im hiesigen Kehrwochen-Biotop mit Blumenkasten wirkt es als Kontrast noch einmal stärker . Der Kultur-Kiosk verkauft T-Shirts und Buttons, serviert kaltes Bier unter Parkhauspfeilern und ist mit Kunst-Veranstaltungs-Plakaten verziert. Zwei DJs legen auf, und zwar eine Musik, die ich trotz 57 Genre-Schubladen im Kopf nicht richtig einordnen kann. Irgend etwas mit grungigen Gitarrensounds und hymnischen Gesang in Hypnoschleife. Ein ganz junger Hund mag den Sound auch nicht und kläfft regelmäßig erfolglos den Innenraum an. Ich finde er soll nicht meckern. Kneipe mit Live-Platten-Onkeln sind so häufig nicht und das auch noch for free, das Bier ist kalt und schmeckt. Mögen Stuttgart solche Spots lange erhalten bleiben. Also kaufe ich einen Button. Vor uns liegt das Rotlicht-Viertel, wir hinterlassen Nachrichten, falls wir spurlos verschwinden sollten.
Station 4.3 Lieblingsmensch, Katharinenstraße

Weit kommen wir nicht. Das Lieblingsmensch gibt es anscheinend noch nicht so lange und es hat Bänke auf der Straße stehen. Die Regel sagt: wenn es beide akzeptabel finden, dann ist es ein Bier wert und so kommen wir draußen zu sitzen. Es ist inzwischen dunkel, die hochherrschaftliche Fassade der wilhelminischen Marienanstalt, einst Haushaltsschule für katholische Dienstmädchen, wird dramatisch angestrahlt. Man sitzt hier gut, die Bedienung ist nett, die Treppe zum Klo komplett silberfarben angesprüht. Auch sonst dämmert mir, begriffsstutzig wie ich bin, dass es hier nach Szenekneipe glitzert, und zwar in allen Farben. Andererseits erzählt man Uli, während ich das Glitzerklo besuche, dass der Laden irgendwie zum „Laufhaus“ obendrüber gehört, und ist das nicht ein Wort für „Bordell?“ Wir lassen uns nicht verwirren, wir haben jetzt drei Bier und finden es nett hier. Empfehlung, das Bohnenviertel offenbart uns cooles Zeug. Einen schaffen wir noch!
Station 4.4: FOU FOU, Cocktail- und Champagnerbar, Weberstraße

Wieder landen wir nach wenigen Schritten auf der nächsten Straßenbestuhlung. Nun ist die FouFou-Bar so wenig unentdecktes Juwel wie irgendetwas, aber der Blick von hier ist eine Station wert. Alles was aus der Leonhardstraße rausläuft oder die Weberstraße hochläuft hat man hier im Blick. Und was auf der Straße vorgeht, ist dann doch ziemlich bemerkenswert. Auf der Gasse patroulliert alle drei Minuten eine ältere Matrone im roten Oberteil und mit blondierter Hochsteckfrisur. Sie scheint so eine Art Wächterin oder Empfangsdame zu sein. Für was? Ich weiß es nicht, aber sie wirkt bedeutungsvoll. Ein völlig betrunkener Typ in einem violetten Balonseide-Anzug, der LL Cool J neidisch gemacht hätte, spricht sie an. Gemeinsam ziehen sie aus einer unauffällig am Rand geparkten Klappmülltonne eine Lidl-Gefriertüte, mit der die Jogginghose von dannen wankt. Ein blauweißer Polizeibus fährt langsam durch und taxiert die Lage. Aus der Leonhardstraße kommen drei ziemlich bullige bis übergewichtige Typen mit Sonnenbrillen und rasierten Schädeln. Sie checken die Lage links und rechts, es sieht nach Patrouille aus. Die Matrone ist verschwunden. Zwei Polizistinnen steigen aus der Wanne und beginnen, große Altpapiertonnen links und rechts der Straße zu untersuchen. Sie leuchten mit Taschenfunzeln hinein, man hat das Gefühl, das hier gerade ein großes Katz-und-Maus-Spiel läuft, das nur Eingeweihte durchsteigen. Die Polizei verschwindet, ohne fündig geworden zu sein. Der Betrunkene kehrt zurück, er trägt nun einen gelben Jogginganzug. Wozu der Tapetenwechsel? Die Lidl-Tüte hat er dabei, er wechselt einige Worte mit der Straßenwächterin, dann zieht er wieder mit Tüte ab.
Spannender kann man in Stuttgart nicht trinken.
Zwischendurch lernen wir einen ziemlich angeheitertern dreißigjährigen Hilti-Vertreter aus der Schweiz kennen, mit dem wir über Beziehungen und das Leben philosophieren. Und über die Schweiz. Warum er alleine Urlaub im Bohnenviertel macht, fragen wir nicht. Und damit endet auch die vierte Tour.
Werden wir es je aus dieser Kernschmelze des Stuttgarter Nachtlebens heraus schaffen und wieder einmal mehr Strecke machen? Beende ich diese Serie jemals, bevor ich zu alt werde? Werde ich irgendwann als Greis am anderen Kesselrand stehen und hinabbrüllen, dass ich es geschafft habe?
Wir werden sehen.
Die 5. Tour: Juni 2022, raus aus der bürgerlichen Mitte!
Wieder braucht es fast ein Jahr bis das Projekt Querschnitt wieder losgeht! Mehrere Termine platzen und es braucht einen erstaunlichen Planungsaufwand, aber dann, in den Pfingstferien gelingt der Schuss! … Schnitt!
Und wir stehen auch nur vier Minuten auf dem selben Bahnsteig (Stadtmitte), bis jeder merkt, dass der andere schon da ist. Aber dann ..! Aber dann ..! Aber dann … machen wir vorher einen Zwischenstopp bei …
Station 5.0: Imbiss Beirut am Josef-Hirn-Platz

Denn ich muss noch etwas essen und Uli hat schon zuhause. Das nächste offene und nicht völlig überfüllte Schnellrestaurant ist ein libanesischer Imbiss, der völlig unprätentiös daher kommt und gerade deshalb eine schöne Abwechslung zu all den veganen Suppen-Küchen und Lifestyle-Foodtruck-Konzepten ist. Ich bestelle mir scharfe Kartoffeln mit Salat und Humus und bin sehr angetan. Richtig scharf sind sie nicht, eher lecker abgewürzt, aber ich bin ein großer Fan der Knoblauchsoße. Meine Umwelt ab jetzt auch. Uli ist ein bisschen enttäuscht, dass sein Schwarztee aus England und nicht aus dem nahen Osten ist, dafür soll er lecker gewesen sein. Und weitere Abzüge in der Projektnote: Es gibt kein Bier auf Hawai! Also im Imbiss. Im Nachhinein war das aber wohl auch gut so, und wir müssen schnell weiter, denn eine der heilgen Regeln des Querschnitts besagt: Es beginnt wieder da wo es endete, der Kreis muss sich schließen, die Reinkarnation erneut beginnen.
Auf ins fucking Bohnenviertel.
Station 5.1: FOU FOU, Cocktail- und Champagnerbar, Weberstraße

Noch immer romantisch zwischen Sexwork-Angeboten und Weggehszene gelegen gibt es nach wie vor im FOU FOU lauschige Sitzplätze draußen unter einem dicken alten Baum. Erinnerungen werden wach: Plastiktüten, die verschwörerisch Hände wechseln, Polizist*Innen die Mülltonnen (und davon gibts hier außergewöhnlich viele) durchleuchten, Bier … Ja, Bier! Heute eher alles nicht (zu früh?) und überhaupt ist die Welt wieder einmal ein Stück schlechter geworden, denn das Bier gibt es hier nur in 0.33-Fläschchen und ich weiß beim besten Willen nicht, warum sich eine bayerische Brauerei (Ja, Bayreuther, ich meine dich, genau dich!!!) diese Erniedrigung antut. Klar, aus lukrativen Gründen heraus, aber diese Selbstverzwergung der süddeutschen Trinkkultur ist ein Angriff auf mein Identitätskonstrukt. Deshalb schnell weiter, raus aus dem Bermuda-Dreieck hier am Stadtzentrum. Spoiler: Wir kommen nicht weit.
Station 5.2: Bistro Einstein, Wilhelmsplatz

Das Bistro Einstein ist ein französisches Bistro, trotz des deutsch-jüdisch-amerikanischen Namensgeber, und es meint das ernst. Ich bestelle mir ein Kwak – ja gut, das ist ein belgisches Bier, aber in Ostfrankreich, wo ich echt viel rumhänge , gibt es das tatsächlich fast in jedem Restaurant. Uli trinkt 1664, das ist jetzt das original französische Exemplar, ungleich dünner als mein Bier. Wieder bleiben wir bei 0.33, dafür hat mein Kwak auch über 8 % und gilt damit auf der Warsteinerskala als 0,66. Und auch hier sitzt man sehr nett draußen an der Straße, der Verkehr tost um einen herum und erstaunlich viele Leute rennen mit Pizzaschachteln vorbei. Entweder gibt es um die Ecke den besten Teigfladen-To-Go des Kessels oder die hiesige Szene hat sich von Tüten in Mülltonnen auf Drogenpizza (Lambock!11) umgestellt. Zum Inneren des Bistro kann ich nichts sagen, denn auf Toilette musste ich nicht, aber ich hätte nun echt Lust hier mal französisch zu brunchen. Weiter treibt uns der Entdeckerdrang in die anbrechende Dunkelheit, ab jetzt die Schlosserstraße hinauf.
Station 5.3: Makamba, Schlosserstraße

Kurzer Disput der Uneinigkeit zwischen mir und dem treuesten aller Projektpartner: Hatten wir uns mal darauf geeinigt, dass wir Restaurants links liegen lassen dürfen, oder muss man ein afrikanisches Speiselokal mitnehmen, wenn es nicht völlig inakzeptabel wirkt? Uli setzt sich mit einer sehr wörtlichen Auslegung des § 2 unserer Lex Cervisia durch und wir landen im Makamba, eines zu diesem Zeitpunkt sehr leeren Restaurants. Fast ein wenig traurig wirkt der einzig belegte Tisch – offensichtlich die Familie des Wirtes. Aber sehr freundlich wird uns gesagt, natürlich könnten wir hier ein Bierchen trinken, und wir landen an einem Fenstertisch mit einem sehr lokalen Hofbräu-Pils. Die Einrichtung hier ist sorgfältig afrikanisches Dekor über einem Grundstock an altdeutscher Wirtshaustradition. Stilbildend: Sitzbänke in Eiche dunkel, mit Zebrastoff neu aufgepolstert. Der Laden ist recht groß und ich nehme mir einmal mehr vor, hier mal zu essen, das wirkt alles ganz vielversprechend. Etwas später kommen noch zwei junge Frauen herein, die wirklich auch Essgäste sind, wir nehmen das als Anlass zu zahlen und uns zu verdrücken.
Station 5.4: Hanky Panky, Schlosserstraße

Die erste echte Entdeckung – Das Hanky Panky. Kennt geneigte Leser*In folgendes Science-Fiction-Fantasy-Szenario? Eine Bar dient als Raum-Zeit-Maschine und könnte eigentlich zu jeder Zeit in jedem Universum existieren, man betritt sie z.B. im Jahr 1996 in Minneapolis, trinkt einen Longdrink, verlässt sie und steht plötzlich im Tokyo des Jahres 2033. So ist das Hanky Panky.
Um einmal weniger meta zu werden, wenn ich über Bars philosophiere: Die Bar befindet sich in einem edel hergerichteten Tonnengewölbe und strahlt sofort etwas Hochklassiges aus. Eine freundliche Host setzt uns, auch die Preise auf der Karte sind eher obere Liga. Neben uns sitzen vier Amerikaner in mittleren Jahren, möglicherweise sind wir heute Abend hier die einzigen, die in Landessprache miteinander reden. Wir brechen sofort die heilige Regel eins: Hier könnte man zwar ein Bier bestellen, aber cool wäre es nicht. Also zwei Moscow Mules. Aha, jetzt geht das über den Haufen Werfen der Projekt-Gesetze also ganz easy, was? Die beiden Cocktail sind sehr gut gemixt und werden elegant angerichtet, ich wünschte, ich wäre im Smoking unterwegs und nicht in einem Zombiefilm-T-Shirt. Hab aber gar keinen Smoking. Als wir die Treppe wieder hochstolpern, ist es spät und der Asphalt schon etwas weich unter den Sneakern, aber wir sind noch unternehmungslustig!
Station 5.5: Galerie Kernweine, Cottastraße

Am Ende habe ich den ganzen Abend nicht begriffen, dass das tatsächlich eine Kunst-Galerie war. Es ist aber auch eine sehr, sehr coole Kneipe und man serviert Schwabenbräu in der Bügelflasche. Pluspunkt. Die Räumlichkeiten schreien gerade zu „Gewerbliche Räume für kulturelle Nutzung!“ und ich würde wie immer gerne wissen, welche Firma hier einmal ansässig war, aber ich finde es nicht heraus. Einrichtung: zweckmäßig-cool. Wir sind schnell echte Fans.
Wir diskutieren über unsere Biere hinweg, was noch weniger dazu geeignet ist, irgend etwas Relevantes für die Menschheit zu bewegen: Kunst oder Kommunalpolitik. Ich bin Team-Pro-Kunst, Uli Pro-Kommunalpolitik, wir finden keinen Kompromiss, aber deswegen führt man ja auch keine Bierdiskussion. Gegen später irre ich durch sehr, sehr geile Kellergewölbe auf der Suche nach dem Abtritt, einer ebenso verwirrten, jungen und ebenso bierseeligen Frau folgend, die sich sicher war, es hätte hier unten mal einen Durchgang zum Klo gegeben. Wir sind uns nicht ganz einig, wer hier wem gerade den Weg weist, aber ich verrate schon einmal die Lösung: Toilette auf dem Innenhof, leider nach 23.00 kein Service mehr draußen. Als ich aus den Eingeweiden der Galerie wieder auftauche, teilt mir Uli mit, dass wir alle S-Bahnen, die noch nach Hause fahren würden, verpasst haben. Holy Moly, ist das spät geworden. Wir zahlen, machen uns auf zum Taxi-Stand, Uli wird heute Nacht mit meiner Couch vorlieb nehmen müssen (sie ist aber sehr bequem).
Alter, 5 Stationen! Da glost wohl noch ein Funken Glut unter der Asche. Das war auch definitiv die bisher teuerste Runde, aber …
… wir sind endlich raus aus der Mitte.
Die 6. Tour: August 2022, vom Österreichischen Platz zum Erwin-Schöttle-Platz
Warum eigentlich wieder etliche Monate warten? Außerdem hatte das Projekt Querschnitt ziemlich genau vor drei (!!!) Jahren seinen Startschuss, das ist demnach so etwas wie eine Jubiläumsfeier. Herzlichen Glückwunsch! Wir arbeiten uns also gleich im August die Tübinger Straße vor und gelangen endlich in das Bermuda-Dreieck Marienplatz wo der allgemeine Hippster mit der invasiven Weggeh-Szene Sträuße ficht.
Station 6.1: Galerie Kernweine, Cottastraße

It has to start where it ends und das ist fein-fein-fein, denn die coole Galerie ist uns nach der letzten Tour noch beiden in bester Erinnerung. Kassandra-Rufe, die Location könnte wegen der Stuttgarter Sommerferien an einem Dienstag gar nicht auf haben und man müsste deswegen schlimmstenfalls in die Dinkelacker-Brauerei ausweichen, erweisen sich als Unkenrufe, natürlich haben die Kernweine auf, natürlich ist es da immer noch cool, natürlich gibt es noch immer das Schwabenbräu aus der Bügelflasche. Wir halten uns auch für dieses Mal gar nicht lange mit ausschweifenden Besichtigungen von Räumlichkeiten auf, sondern erzählen uns gegenseitig die schönsten Ferienerlebnisse. Guter Auftakt, guter Zug, baldiger Aufbruch des Duos Kneip in die Dämmerung.
Station 6.2 … oder eigentlich 6.3, aber egal, das erkläre ich im Text: Café Galao, Tübinger Straße

In der Tübingerstraße kommt gar nicht mal soviel auf uns zu. Nur eine Vinothek zeigt mit ihrem schicken Weißwein-Publikum schon einmal die hässliche Fratze des durchgentrifizierten Marienplatzes. Zu dem Zeitpunkt wissen wir beide nicht, wie hässlich die noch werden sollte. Ulis Regelinterpretation, man könne ein Bier durch einen Wein ersetzen, weiße ich aufs Schärfste mit dem Verweis auf meine Neigung bei Mischkonsum zu brechen zurück. Und dann stehen wir ziemlich schnell vor dem Galao. Eigentlich stehen wir vor dem Arrigato eins weiter nordöstlich, aber aus dem Galao dröhnt laute … Musik.
Musiiiiiik …
Wir überspringen also (vorerst) das Arigato, denn es gibt zwar Regeln, aber im Galao spielt eine Band! Die Band, Elwood! Und das Galao muss man nun wirklich nicht mehr vorstellen.
Es ist ziemlich voll und auf dem winzigen Bühnchen steht eine junge Country-Combo aus North-Carolina. Den Namen erfahren wir nicht. Der Sound ist höllisch mies abgemischt, die Sängerin hat eine wirklich schöne Stimme, aber man bemerkt sie nur, wenn der wummernde Western-Bass mal aussetzt. Ganz hinten rechts spielt sich einer an der Steel-Guitar den Wolf, aber man sieht ihn nur spielen, zu hören ist das Instrument nicht. Macht nix, die Leute hoppeln trotzdem zum Hillybily-Sound.
Wir entwickeln die Theorie, dass alle Songs vom Granddaddy des Mädchens in den 70erJahren für eine Countryscheune zwischen drei Maisfeldern geschrieben wurden, und sie jetzt die Noten geerbt hat und damit durch europäische Kneipen tourt. Alles hört sich original an wie vor 50 Jahren. Und leider auch ziemlich gleich von Nummer zu Nummer. Na gut: wir haben nach einem Bier genug gesehen und mit dem Kopf genickt. Die Halbe hat 5 Songs gedauert und wir wissen jetzt, wie die nächsten 5 funktionieren. Außerdem müssen wir auch mal was essen. Also machen wir etwas, das wir noch nie auf der Tour gemacht haben: Backtracking. Eine Kneipe zurück, zu der, die wir ausgelassen haben.
Station 6.3 oder 6.2, je nachdem: Arigato, Kolbstraße.

Na ja, das Arigato. Auch keine unentdeckte Perle. Aber alles ganz ok, gemütlich und solide. Wegen dem 70er-Jahre Country nebenan ist auch kaum was los. Wir kriegen entspannt unser Bier und können endlich Mampf für uns bestellen. Die Karte ist irgendwie mediteran angehaucht, wir kriegen Schafskäsecreme mit Brot (Brot! Kein posches Baguette) und Kartoffelecken mit rosa Majo. Ziemlich lecker alles. Wir diskutieren diese Winnetou-Sache in den Medien und stärken uns für die vor uns liegende Strecke. Und Stärkung haben wir dringend nötig, as you will see …
Station 6.4: Balkan Treffpunkt, Marienplatz oder: Börni, der unangenehme Rechtsextreme vom Nebentisch

„Du kuck mal, da vorne, ein Imbiss: das sieht doch ganz authentisch aus.“
„Ja, wow, mitten auf dem Marienplatz, kaum zu glauben. Lass da mal ein Bier trinken.“
Es stimmt: Das Gentrifizierungs-Publikum ist ekelhafter Pöbel, wenn Mama Bosch mit ihrem Elektro-Lastenrat die Fixie-Pedale tritt, um mit Lasse und Amalia noch ein Ingwer-Chardonay-Eis für 3,20 die Kugel zu löffeln, bevor Daddy mit dem Dienst-Hybrid vom Startup in die vollrenovierte Gründerzeitwohnung kommt. Schon wahr. Aber lieber nehme ich 10 gefakte Hippster-Familien mit auf unsere Tour als noch einmal einen original Nazi mit Kontrollverlust. Also einen Börni.
(Versionsgeschichtliche Anmerkung. Hier habe ich Anfang September 2022 aufgehört zu schreiben. In einem Bus, des nächtens, im Wald, umgeben von alten Kratern. Und es seitdem nicht geschafft, den Text wieder aufzunehmen. Obwohl ich es mir immer wieder vorgenommen habe. Aber der Widerwille, den Börni in mir erzeugt hat, war irgendwie … stark. Nun ist es Halloween, und ich muss einfach mal mir diese Begegnung mit der paranormalen politischen Haltung von der Seele schreiben. Es scheint jetzt zu gehen)
Also: Börni.
Börni ist ein Nazi, und zwar ein alter, betrunkener. So wie man sie aus der Heute-Show kennt, nur halt in echt. Er ist sehr laut und offensiv und sitzt mit seinen leeren Biergläsern vor einem kleinen Imbis, der ironischer Weise von einer farbigen Frau geführt wird.
Wir machen einen Fehler. Also eigentlich macht Uli den Fehler, immer macht Uli hier in diesem Blog-Text den Fehler. Gut, zugegeben: Ich mache mit. Wider besseren Wissens.
„Man diskutiert nicht mit Nazis hat die Geschichte gezeigt.“ (Danger Dan)
Hätte ich nicht auf musikalische Weisheiten hören müssen? Aber wir versuchen es trotzdem. Erst mit Vernunft, mit Argumenten, dann mit zunehmend verzweifeltem Humor, dann mit einem halb ge-exten Bier um einfach aus dem Dunstkreis des Widerlings zu entkommen. Börni ist unbelehrbar, Börni hasst, hasst zutiefst Leute aus anderen Kulturkreisen, die Regierung, die Grünen, die Linken und links ist alles, was nicht AfD ist. Er schimpft, pöbelt, brüllt. Unablässig. Der Staat, die Flüchtlinge, die Welt.
Was mich bitter macht: Diese Menschen holt man nicht mehr raus, bis die Welt in Trümmern liegt. Vorher ist für sie ein Andersdenken nicht möglich. Man kann nur versuchen, das Ausbreiten der Seuche einzudämmen, damit es möglichst wenige erwischt.
Als wir aus dem Imbiss in die Nacht fliehen, begleitet von einem entschuldigenden Lächeln der Bedienung, wissen wir: Man diskutiert nicht mit ihnen. Und ich fühle mich, als wäre ich mit dem Gesicht in Pisse gefallen.
Station 6.5: Das Forró-Haus, Böblinger Straße

Aber genug davon, wir haben den Tiefpunkt des Kessels durchwatet, ab jetzt steigen die Straßen wieder an, es geht bergauf. Zwar bereits ein wenig unsicher im Tritt, aber aufwärts. Es wird ruhiger, während wir an den U-Schienen entlang durchs nächtliche S treten, den Erwin-Schöttle-Platz bereits im Blick, und wir ahnen: Wir können erst mal ein wenig Frischluft pumpen, bis etwas hier am Weg liegt.
Am Weg liegt dann letztendlich das Forró-Haus und aus seiner Türe erklingt lateinamerikanische Musik. Ein Paar junge Menschen hängen auf der Treppe vor der Tür herum, sie sehen aus, als wären sie am Ende eines Abends. Wir ja auch, na um so besser.
Ob man hier noch ein Bier trinken könne? Das könnten sie nicht genau sagen, sie seien ja nur die Schüler. Ich finde meinen darauf folgenden Witz, dass sich das ja gut treffe, wir seien beide nämlich Lehrer, in dem Moment absolut brilliant, irgendwie lacht trotzdem keiner. Aber gut, man lässt uns ein, die Location wirkt nett, wir dürfen an der Bar eine Halbe zischen.
Wir wissen beide: es wird unsere heutige Endstation sein.
Im Hintergrund läuft Salsa-Lambada-Rumba-Mambo-Son, al the same to me, und ein paar letzte übrig gebliebene Tanz-Schüler (Ach, soooooo!), diesmal alle in den 40ern, schieben sich dazu im Hintergrund über eine Tanzfläche. Abschlussball oder so. Ich könnte nun viel über die Latino-Tanzmaus-Szene lästern und eine gemeine Soziologie der heimischen Salsa-Schwaben schreiben, aber:
Nach Börnis toxischem Braungas wirkt der Latino-Abend, die lachenden Tänzer*Innen und die südlichen Rhythmen so bunt, so offen, so entspannt, dass ich einfach nur dankbar für diesen Abschluss bin.
Chachacha.
Also gut – hier legen wir dann also bei der nächsten Tour los. Wann immer das sein wird. Hoffentlich bald.