Etwas weniger als ein halbes Jahr läuft jetzt mein Blog. Er ist technisch noch immer laienhaft, aber er tut das, was ich mir versprach: Er fasst meine Erlebnisse in diesem Auszeitjahr zusammen und bietet mir eine Plattform, Dinge zu dokumentieren und Ideen und Gedanken zu verschriftlichen.
Ob du selbst als Lehrer*in mit Sabbatical-Plänen nach Erfahrungsberichten suchst, ob du hier reingestolpert bist oder ob du mich persönlich kennst und gerade wissen möchtest, wo Achim steckt und was er treibt: Fühl dich eingeladen hier zu lesen. Wenn du’s gut findest, dann like es, sobald du online aktiv bist wirst du leider geil auf Clicks. Wenn du es noch besser oder ganz schrecklich findest, dann kommentiere es.
Inzwischen im Freistellungsjahr angekommen kann ich folgendes Zwischenfazit ziehen: Die beste Entscheidung, die ich seit langem getroffen habe. Denn das eigene Leben ist tatsächlich ein sehr, sehr schöner Ort. Man neigt nur dazu, ihn im Alltag zu vergessen.
Originalpost, 20.07.2019
Eigentlich möchte ich dokumentieren, was mir dieses Jahr bringt.
Im Moment sitze ich aber eher da und versuche mich in die Gestaltung dieses Blogs einzulernen. Irgendwie ziemlich sperrig, und ich stehe ganz am Anfang. Im Grunde schreibe ich diesen Eintrag nur, weil mir das Tutorial hier vorschlägt, ich solle meinen ersten Blog-Content nun schreiben.
Und dabei hat mein Sabbathjahr noch gar nicht angefangen. Es ist einfach nur ein verdammt schwüler Juli-Sonntag,
Da ist er wieder, der ewigwährende Zwiespalt: Eigentlich strebt Mann (Mitte Vierzig, bindungslos, wills noch mal wissen) nach Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, und stellt dann fest, dass er Dinge tut, weil es ihm eine Software empfiehlt.
Ob ich aus dieser Falle noch einmal entwischen kann? Erste Befürchtungen machen sich breit, zum Beispiel die: Ich sauge mir einen Text aus den Fingern, und mit einem Klick ist alles weg.
Es hilft nichts, Mann-der-es-wissen-will. Du musst es nun wagen abzuspeichern.
Ich habe lange nichts mehr geschrieben. Es ist aber auch nichts viel erwähnenswertes passiert. Von Calais aus nach Belgien, von da aus in die Niederlande, um liebe Freund im Urlaub zu sehen. Danach die lang Rückfahrt in den Süden und dann stand die nächste Veranstaltung an: eine Woche LARP im Saarland, so wie jedes Jahr. Alte Freunde sehen, eine gute Zeit haben, danach völlig fertig sein.
Und schwups ist mein Jahr zu Ende.
Alles riecht jetzt nach Abschied. Die Luft, die Tage, der helle Septemberhimmel. Und es gibt da einen Abschied, der muss besonders angemessen und würdevoll sein. Ihr wisst schon.
Gerade fahre ich die letzte Tour mit Gaspard. Durch Frankreich, mangels bessere Ideen und weil es eigentlich unser angestammtes Kernterritorium ist. Der Wehmut hat mich ergriffen. Die vielgeübten Handgriffe des Alltags in meinem Mobil werden langsam zu kleinen sakralen Symbolen, über allem schwebt der schwere Grundton des „letzten Mals.“ Und so viele Tage sind es auch gar nicht, bis ich wieder zuhause Termine habe. Nochmal ein bisschen mit dem alten Kerl rumtouren, dann ist Schluss.
Mein Laptop pfeift auf dem letzten Loch. Buchstäblich. Nachdem die Schnellreparatur auf dem Stadion-Parkplatz von Talinn drei Monate hielt, kann ich jetzt das Scheppern des Lüfters nicht mehr mit Reinpusten beheben. Dafür habe ich beim Reparaturversuch jetzt die Tastatur verbogen. Aber er startet noch. Der neue ist schon bestellt, auch hier heißt es nun: Abschied.
Ich war ein bisschen im Foret de Paroy bei Luneville – wegen der Vergessenheit. Zwei Weltkriege haben in dem Wald getobt, heute kennt ihn keiner mehr. Ich war ein bisschen in den Wäldern von Spada, auch da liegt tiefstes Vergessen über den stummen Zeugen der Vergangenheit im Wald, bemoster Beton, auf den jetzt die ersten Blätter rieseln.
Heute steht nun die letzte Nacht an. Nichts wäre passender, als sie auf dem Schlachtfeld von Verdun zu verbringen. Ich habe heute zuerst ein bisschen einen Stadttag eingelegt und den Morgen an der Maas gestaltet. Die neue Ausstellung in den unterirdischen Tunneln der Zitadelle habe ich jetzt all die Jahre verpasst, ich glaube 2016 oder 2018 wurde sie eröfnet. Die alte kannte ich noch aus Studentenzeiten, es war eine ziemliche Weltkriegs-Geisterbahn, durch die man mit einem Schienenwagen gekarrt wurde.
Es ist noch immer eine Geisterbahn.
Die Filmchen sind neu gedreht und man kuckt sie nun mit VR-Brille. Es sind aber zweidimensionale Filmchen, die vor einen in den Tunneln schweben wie eine animierte Spielkarte, während man in einem nun computergesteuerten Wagen durch die Tunnel fährt. Ansonsten ist die Präsentation genau so wirr und unzusammenhängend wie früher. Schön dass sich manche Sachen auch mit modernster Technik nicht groß ändern.
Nun sitze ich an meinem Lieblingsplatz auf dem Schlachtfeld, auf der Kuppel des Kanonenturms der Festung Froideterre, unter mir parkt der liebe Gaspard und Schäfchenwolken treiben über dem abendlichen Himmel. Gleich ist es auch Zeit für das letzte Abendmahl.
Der Mensch gewöhnt sich ziemlich schnell an Dinge. Zum Beispiel an Freiheit und Selbstbestimmung. Beides hatte ich 14 Monate lang in höchstem Maße. Es war eventuell das beste Jahr meines Lebens. Nun wartet auf mich die Rückkehr in die Lohnarbeit, als nützliches Mitglied der Gesellschaft. Nur Milliardäre dürfen davon für immer pausieren, aber ich bin kein Milliardäre. Grob gerechnet werde ich 10 Jahre brauchen, um mir ein drittes Jahr raus zu erkämpfen.
Wer weiß, wie die Welt bis dahin aussieht …
Wenn die Sonne weg ist, dann wird es jetzt im T-Shirt schon kühl. Morgens ist das Gras taufeucht, die Spinnennetze bilden prächtige Kronleuchter. Die Bauern an der Maas ernten gerade ihre Felder leer. Vor ziemlich genau einem Jahr bin ich los auf große Fahrt, ein unendlich langer Sommer quer durch Europa lag vor der Kühlerhaube. Es war wunderbar, darauf zuzuhalten. Aber die Schatten sind nun wieder länger.
Der Sommer ist vorbei.
P.S.: Wer demnächst einen alten, aber braven und vergleichsweise günstigen Camper kaufen will, der melde sich bitte. Gaspard braucht eine liebe neue Besitzer*In.
Was macht man mit den Stunden vor der Fähre? Sich noch irgendetwas Schnelles für den Abschied suchen. Und irgendwie ist es doch von Portsmouth aus ein ziemliches Stück bis nach Dover.
Schließlich lande ich in Hastings. Nach einer langen, anstrengenden Fahrt über kleine Sträßchen mit wieder sehr starkem Verkehr. Eigentlich lande ich in einem Dorf nördlich von Hastings, es heißt „Battle.“
Seltsamer Name?
Als ich als ganz frischer Geschichtsstudi mir meine Veranstaltungen zusammenpuzzelte landete ich in einem Proseminar mit dem Titel „1066 – Norman Conquest of England.“ Meine Seminarsarbeit schrieb ich über den Wandteppich von Bayeux als Quelle und in Bayeux spazierte ich im September herum. Aber das zentrale Ereignis fand 1066 in der Nähe von Hastings statt, denn dort haben die Normannen den Sachsen das Angeln beigebracht.
Spaß.
Sie haben ihnen auf die Mütze gegeben und ihr König war danach tot. Man kann sagen, dass seit dem England und Frankreich ein Ding in der Geschichte sind. Irgendwann nach der Schlacht wurde dann auf dem Gelände eine Abtei errichtet und darum entstand ein Dorf und irgend ein sehr kreativer Kopf kam auf die Idee es „Battle“ zu nennen.
Es ist ein ganz hübsches Dörfchen, leider habe ich wenig Zeit, so wenig, dass das Museum, das sich natürlich wieder laut Heulbrief am Eingang komplett selber finanzieren muss, auf gar keinen Fall geht. Man findet dann aber doch noch einen Zugang zu einem wirklich wunderschön wirkenden Wanderweg durch die Hügel, auf denen damals Englands Schicksal entschieden wurde. Mehr als 20 Minuten bleiben mir da aber nicht, aber immerhin, ich war mal da. Liebe Grüße Herr Richter, leider erreichen die Sie jetzt im Himmel.
Die Fahrt nach Dover ist erstaunlich lange, verkehrreich und zäh. Aber die Briten machen auch nicht alles schlechter, als die Franzosen: Durch die Anfahrtszeremonien bis zur Fähre bin ich hier schon nach 20 Minuten durch. Hätte ich mir in Hastings also mehr Zeit lassen können.
Die P&O Fähre ist nicht nur billiger wie die von Irish Ferries, sondern auch neuer und moderner. Nur das Internet funktioniert mal wieder nur sehr eingeschränkt, ich bin gespannt, wann mal die Innovation eines stabilen Netzes auf Passagierschiffen Einzug in die moderne Welt hält. Es ist bestes Seewetter. Die Klippen von Dover erstrahlen wie in einem Enyd-Blyton-Roman. Die Fähre ist halb leer und damit sehr entspannt. Eine kräftig gebaute Disneyprinzessin singt mit einigen Kindern der Passagiere Songs aus „Frozen.“
Echt jetzt.
Letztendlich lande ich erst in Calais – hier dauerts dann wieder – dann in Dijksmuide in Belgien, wo ich schon 2019 einmal war. Dort gibt es Pommes und Käsekroketten für mich. Jetzt sitze ich auf einem Waldparkplatz kurz dahinter.
In Dijksmuide bin ich mit dem Fahrrad mal auf der falschen Straßenseite gefahren.
Der Morgen beginnt mit einer gehörigen Portion Stress: Erst entdecke ich eine Email von P&O Ferries, die mich auffordert, zusätzliche Passagier-Daten einzugeben – als ob man das nicht schon bei der Buchung machen könnte, ich habe ja eindeutig deklariert, dass ich EU-Bürger bin.
Beim Versuch mich mit Buchungsnummer und Nachname einzuloggen – nichts, aber auch nichts in diesen online-Zoll-Formalitäten ist sicher, funktional und einfach – wird mir mehrfach ausgespuckt, dass die Buchung nicht existiert. Ich werde nervös. Der Check in meinem P&O-Ferries-Customer-Account – nichts, aber auch nichts in diesen online-Zoll-Formalitäten ist sicher, funktional und einfach – enthüllt mir, dass ich eine Buchung auf dieser Nummer habe, aber sie ist abgelaufen, denn mit dieser Buchung sind bereits am 08. August um 11.00 ein gewisser Mr. H. Silva und eine gewisse Ms. W. Silva von Dover ausgeschifft, und zwar mit einem PKW.
Abgesehen von der Datenschutz-Panne – Hallo liebe Silvas, falls ihr das lest: eure Daten sind bei P&O alles andere als sicher – werde ich nun ernsthaft benunruhigt. Erstens habe ich die Fähre bezahlt und die Silvas hatten dazu noch 80 Euro „Amendment-Fee“ zusätzlich; zweitens muss ich morgen über die Straße von Dover und ich habe wohl keine Reservierung mehr. Drittens frage ich mich, ob meine Kreditkarte gerade von den Silvas abgezockt wurde.
Die Homepage von P&O und eine Telefonstimme versichern mir, dass vor Montag niemand zu erreichen ist. Nichts, aber auch nichts in diesen online-Zoll-Formalitäten ist sicher, funktional und einfach. Eine von mir geschriebene Email mit vielen Screenshots des Vorgangs erhält eine automatisierte hirnlose Reply – nichts, aber auch nichts in diesen online-Zoll-Formalitäten ist sicher, funktional und einfach -, die aber darüber hinaus eine andere Customer-Service-Nummer enthält, unter der ab 9.00 auch am Wochenende jemand zu sprechen sein soll. Per Mail ist die Bearbeitungszeit jedenfalls 14 Werktage.
In Osteuropa wäre so etwas undenkbar.
Jedenfalls stehe ich kurz nach neun dann auf einem Picknickparkplatz und tatsächlich hebt jemand ab. Die junge Frau am Ende der Leitung spricht hartes Midlands-Englisch mit undefinierbaren Einschlägen vom indischen Subkontinent, und die Bikergangs, die über den Parkplatz schwärmen als gebe es kein Morgen machen die Verständigung für mich nicht einfacher. Jedenfalls nimmt sie das Problem ernst; muss ihre Vorgesetzte fragen; zweimal schaltet sie sich zurück, damit ich mein Nummernschild und meine Adressdaten aufsage. Dann scheint es aber geklärt: Fehler von P&O-Ferries, ich bekomme eine neue Registrierungsnummer für die selbe Fähre, auch meine Kreditkarte wurde nicht höher belastet als von mir autorisiert.
Uffz. Aber so was brauche ich auf Reisen wirklich nicht.
Das Wetter ist bombastisch, der Verkehr an diesem Sonntag morgen ist es auch. Es ist verblüffend: man klatscht so viele Spuren in die Landschaft und trotzdem ist der Verkehr nur zäh fließend. Es zieht sich ganz schön nach Portsmouth.
Portsmouth ist in etwa so wie Bristol, nur noch ein bisschen abgeratzter. Ich finde einen schönen Parkplatz an einem großen Sportpark und bin in 15 Minuten mit dem guten, alten Pegasus am Wasser. Die historischen Docks haben hier ein paar echt weltbekannte Schiffe anzubieten.
48 Euro kostet das all-inklusiv Ticket für alle Schiffe. Ich frage die nette junge Frau im zentralen Besuchzentrum, ob man das auch bis zum Abend alles nutzen kann, und mir wird ernsthaft versichert, das sei alles noch heute gut machbar.
Das ist eine Lüge.
Ich ranke jetzt einfach mal die vier Besichtigungen im Dockbereich nach ihrer Geilheit, aus meiner sehr subjektiven Sicht:
HMS Victory
Nelsons Flaggschiff ist ein nationales Heiligtum und in eher schlechtem Zustand. Der Dreidecker war einfach nicht auf 200 Jahre + X ausgelegt. Dass ihm die Masten fehlen und das Deck unter einem ziemlich engen Schutzzelt liegt, nimmt viel von der Schiffsatmosphäre. Es mangelt ein wenig an Erklärungstafeln im labyrinthischen Rundgang durch die Decks. Entweder man nimmt einen altmodischen Audioguide mit oder kauft noch einmal für viel Geld ein Guidebook. Die Stelle, wo der gute Admiral sterbend aus der Uniform gepuhlt wurde, ist extra markiert. Für Napoleonik-Fans natürlich ein Muss.
Die Victory, eingesargt.
HMS M33
Die letzte überlebende Corvette aus dem Ersten Weltkrieg hat Galipoli mitgemacht und ist ein spannendes Kleinkampfschiff, das man so nicht auf dem Schirm hat. Es ist erstaunlich, wie eng der Minizerstörer war. Leider ist der Rumpf vor dem Zweiten Weltkrieg leergeräumt worden, nur in den Aufbauten kann man den originalen Zustand noch betrachten. Nach 20 Minuten ist man durch.
HMS Warrior
Das Kriegsschiff ist riesig und war im 19. Jahrhundert sicher ein technisches Wunder. Durch die Decks zu wandern und alle Stationen zu erfassen machte richtig Spaß. Auch das Oberdeck mit den mächtigen Masten wusste mich zu beeindrucken. Außerdem liefen ein paar Guides in den Rollen von Offizieren herum, die auf zeitgenössische Weise Dinge erklärten. Toller Decksplan zum Mitnehmen. Ein echtes Highlight.
1. Die Mary Rose
Tudor-Kriegsschiff, das 1981 vom Hafengrund gehoben wurde. Quasi ein Querschnittsmodell, denn die Seite des Wracks, die nicht im Schlick vergraben war, ist über die Jahre komplett weggerottet. Leider beginnt die Tour mit einer etwas peinlichen Videoinstallation, die ein bisschen an Disneys Geisterhaus erinnert. Aber dann: Das aufgestellte Wrack in einer Halle mit Gallerien verströmt eine ziemlich morbide Atmosphäre. Fantastisch sind aber die vielen Funde und persönlichen Gegenstände aus dem 16. Jahrhundert, die im Rumpf aufgefunden wurden. Einigen der Skellette – etwa 500 arme Schweine sind mit der Mary Rose abgesoffen – kommt man ziemlich nahe. Das Museum ist noch recht neu, die Präparation der Funde dauerte viele Jahre. Es gab hier so viel zu sehen, dass mir am Ende etwas die Konzentration abhanden kam, und ich bin eher ein ausdauernder Museumsbesucher.
Um 17.30 machen die historischen Docks so ziemlich zu, und es gab noch immer drei-vier Sache, für die ich eigentlich gezahlt hatte. Ich bin aber auch durch und setze mich erstmal an den sehr schönen Hafen auf ein Feierabend-Pint.
Hätte ich das mal bleiben lassen.
Es ist der letzte Abend für mich auf den Inseln, ein bombastischer Sommerabend. Auf dem Weg zurück zu meinem Sportpark ertönt plötzlich laute Life-Musik von rechts. Es ist der, laut Aufschrift, „weltberühmte“ Music-Pub „Admiral Drake“, der da mit einer Band im Garten aufwartet.
Ich muss einfach.
Das IPA, das ich mir an der Bar vor allem hole, weil es nur 3,8 % Alkohol haben soll, sieht im Glas wie bräunlich-säuerliche lauwarme Pisse aus und so schmeckt es leider auch. Das Publikum besteht aus ein paar grauharigen Motorad-Rockern, einigen tätowierten Rednecks (wie nennt man britische Rednecks?) und diversen Leuten in ihren 60ern. Die Band, deren Sänger eine Mischung aus Lenny Kilminster und Shane MacGowan ist, spielt Rockklassiker, nicht sehr kunstvoll, handwerklich solide. Aber alle sind gut drauf. Einer tanzt an Krücken.
So verklingt also mein letzter Abend hier sehr angemessen: Vor einem Pub, in der Abendsonne mit einem Pint, alte Rolling-Stones-Kracher singend.
Uii, heute war wieder ein wahnsinnig ereignisreicher Tag. Aber ein richtig guter. Zunächst erwache ich mit dem Plätschern des Bächleins neben dem Parkplatz. Der Himmel ist schon ziemlich blau, als ich meinen Kaffee schlürfe und die anderen liegen noch tief im Schlummer, als ich mich wieder auf die enge Straße durch den Nationalpark mache. Aber am Samstag morgen muss ich nun doch weniger Gegenverkehr handeln, gut so.
Erster halt: Eisenzeitlicher Menhir. Nix weiß man darüber, außer wann er ungefähr aufgestellt wurde, aber zu welchem Zweck? Keiner kann es sagen. Es muss aber eine ziemliche Arbeit gewesen sein. Heute steht er auf einer Schafweide und dient den Schafen wohl des öfteren als Schattenspender, wie die schlammige und verköddelte Erde um den Felsen zeigt.
C. Hay war 1869 da und er hatte einen Meisel.
Er trägts mit schweigender Würde.
Nächster Stop ist das Garwant Visitor Center des Bannau Brycheiniog National-Parks, das auch noch in tiefem Schlummer liegt – geöffnet erst ab 9.30. Also gehe ich auf eine kurze Wanderung zum nächsten Hügel, auf dem die reste eines eisenzeitlichen Forts zu sehen sein sollen. Die Landschaft ist unwirklich schön, sanfte Hügel mit dichten Farnwiesen, die Wege dazwischen aus saftig grünem, sehr kurt gehaltenen Gras, man geht quasi auf Moos zwischen Farnen. Die Wege werden von den Schafen freigehalten.
Überhaupt, die Schafe. Sie sind hier überall und damit meine ich wirklich überall. Immer wenn man kommt starren sie einen an, als wäre man der erste Mensch, den sie zu Gesicht kriegen. Ich vertrete inzwischen die Theorie, dass das auch genau so ist: Alle 128 Sekunden wird im Schaf die Datei „Defaultsheep1.0.exe“ neu gebootet, die alles auf 0 setzt und alle Erinnerungen des Schafes überschreibt. Also sind sie tatsächlich jedesmal stark verblüfft, wenn sie uns sehen. Darüber hinaus fliehen sie konsequent, wenn man sich Ihnen nähert, also nix mit wollige Schafe streicheln.
Oben auf dem Hügelfort hat man einen bombastischen Ausblick auf die tiefer liegende Landschaft und die schroffen Höhen auf der anderen Seite. Ich begegne einem älteren Herren, der mir den freundlichen Hinweis gibt, mich für weitere Wanderungen im Visitor Center zu erkundigen, denn man stoße hier sehr schnell auf Privatland der Farmer und da sollte man besser nicht hineinstolpern.
Ich nehme das an.
Zurück an dem sehr schönen und sehr großen Center mit Kaffeeterasse und Shop bekomme ich von zwei sehr netten älteren Damen Tipps für mögliche zwei bis drei Stunden Wanderungen und schon eine Stunde später klettere ich aus dem nächsten Wanderparkplatz und schlage mich einen weiteren Hügel hinauf. Mich erwarten verschiedene botanische Zonen. Erst Wald, dann schon die bekannten Farnwiesen, schließlich Heidekraut. Über mir kreist ein ziemlich großer Raubvogel (nicht permanent, ich scheine noch vom Aas ein bisschen entfernt), um mich herum glotzen und flüchten Schafe, die Sonne scheint, ein Windchen bläst, perfektes Wanderwetter.
Ziemlich zur Mittagspause komme ich am höchsten Punkt der Wanderroute an, gekennzeichnet durch einen hohen Steinhaufen, auf den ich auch ein Bröckelchen lege. Dann lasse ich mich im Heidelkraut nieder und vespere Käse, Brot und kleine Tomätchen, der Wind bläst kräftig, die Aussicht ist bombastisch. Ich lege mich in die Sonne und schließe ein bisschen die Augen. Ich trinke eine Dose Cola. Das Leben ist schön.
Beim Aufstehen stelle ich fest, dass ich die ganze Aktion auf einem beachtlichen Haufen Schafköttel durchgezogen habe, wenigstens schon gut durchgetrocknet. War ja klar.
Aber mehr Wales geht nicht.
Zwei Meilen und 30 Schafe weiter geht es wieder zum Parkplatz und ich sage Wales schweren Herzens lebewohl. Es war schon toll hier in der Natur. Aber ich muss mich weiter zurück nach Osten machen, viel Zeit bleibt mir nicht mehr in Britannien.
Am späten Nachmittag stelle ich dann Gaspard in Bristol ab. Bristol ist spannend. Portishead kommen hier her, Massive Attack auch, vermutlich Banksy und Walace und Gromit sind hier entstanden. Bristol gilt als absolute Kultur- und Muskikmetropole, überall trifft man auf Street-Art und Murals. Es gibt eine Unmenge an interessant wirkenden Pubs, die jetzt am Nachmittag schon dick besetzt sind. Aus einem dröhnt laute Musik, simpler Bluesrock. Ich gehe trotzdem rein und werde quasi instant von der Mucke umgefetzt. Ehrlich, ich war in den letzten Jahren auf einigen Punk-Konzerten und auch häufig vor lauten Bühnen, aber eine so ohrenbetäubend laute Band habe ich eventuell noch nie erlebt. Man kann an der Theke nicht einmal sich ins Ohr schreien, man muss in Zeichensprache bestellen.
In Bristol sehe ich aber auch wesentlich mehr Obdachlose und Junkies als in London oder in Brighton. Einige liegen mitten auf der Straße und schlafen oder sind weggetreten. Und einige Gruppen von trinkenden jungen Männern um die Pubs herum riechen förmlich nach Schlägerei, und das jetzt schon gegen sechs.
Das warte ich aber nicht mehr ab, ich schlage mich noch ein Stündchen nach Süden um die Küste zu erreichen. Der heutige Schlafplatz ist im Vergleich zu gestern sehr mittelmäßig. Leider ziemlich schräg und neben einer Bundesstraße, aber das Stellplätze finden war noch nirgendwo in Europa so schwierig wie hier, also nehme ich damit Vorlieb. Am Fuße des Hügels dröhnt gerade ein Rockfestival. Es ist ein Metal-Tribute-Band-Festival, das Lineup besteht nur aus Bands mit vage bekannten Namen, aber halt nicht ganz die bekannten Namen. Ihr wisst schon, nach dem Muster: Steel Maiden, Motorheaders, ACBC oder Dark Sabbath.
Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken hinzugehen, aber is halt alles leider Metal. Ich hoffe jetzt einfach mal, das geht nicht bis Nachts um drei.
Ich muss sagen, dass die walisischen Schafe tatsächlich ganz besonders elegante Bewegungen und hübsche Köpfe haben. Ich kann verstehen, warum man da nach einer Weile auch mal in eine Liebesbeziehung reinrutschen kann.
Aber zu den Schafen komme ich nochmal am Ende.
Denn zunächst mal beginnt der Morgen im Umland um Oxford. Es scheint ein schöner Tag zu werden, nur auf der Straße vor dem Parkplatz liegt eine frisch zerfetzte Taube, wer immer sich die in der Nacht geholt hat war dabei ziemlich leise.
Die Fahrt nach Westen verläuft ganz reibungslos. Der Einzug nach Wales über die gigantische Prince-of-Wales-Brücke über einen Meeresarm ist ganz schön erhebend und als mich auf der anderen Seite ein großer, roter Drache begrüßt steigt meine Laune dann doch erheblich an. Gegen 10.00 rolle ich in Cardiff ein und auf den ersten Blick wirkt die Regionalhauptstadt ziemlich wie die „dirty old town,“ die ich vor einigen Tagen in einem Pub in London begröhlt habe. Hier stresst auch die Straßenführung wieder. Es gibt diesen einen Kreisverkehr, in dem ich es zweimal hintereinander nicht schaffe, die richtige Ausfahrt anzuvisieren. Wer kommt auf so was?
Aber ein bisschen später sitze ich auf Pegasus und radele Richtung Innenstadt. Die ist nicht mal so erwähnenswert, im Gegenteil, zunächst denke ich „ein bisschen wie Stuttgart.“ Dann lande ich in dieser sehr, sehr geilen Markthalle und finde plötzlich: „Geil, so gar nicht wie Stuttgart.“
Geil, so gar nicht wie Stuttgart.
Alles ist so ein bisschen schrammelig, im Erdgeschoss finden sich vor allem Lebensmittel, auf der Gallerie haben sich ein Second-Hand-Plattenladen, eine Kleiderboutique, ein Spielzeugstand und ein Tierbedarfshop in den Nischen breitgemacht. Hier rennt keiner rum, um die neue Gucci-Jacke am Käferstand auszuführen und mit Frau Professor Böhnendorf frisch aus Samos eingeflogene Kalamati-Oliven zu besprechen; Hier wollen alle nur Zeug einkaufen und das zu fairen Preisen. Ich erstehe aus purer dummer Neugier heraus eine Cornische Pastete (die natürlich fleischgefüllt ist) und einen Klumpen Breadpudding.
Die Papiertüte mit den beiden Sachen wiegt gefühlt drei Kilogram.
Auch nicht wie Stuttgart ist die riesige Burg in der Mitte von Cardiff, an deren Mauer ich 10 Minuten später in einem kleinen Park sitze und Mittagsvesper einlege. Die Pastetenfüllung ist undefinierbar grau mit kleinen Möhrenstückchen und könnte auch von Sweeny Todd aus der Fleetstreet hergestellt worden sein. Nicht so geil. Ziemlich geil hingegen ist der Breadpudding. Zwei Möwen setzen sich passiv agressiv vor mich und kieksen mich gelegentlich an. Ihre Absichten sind eindeutig und ich zische ihnen ein definitives „nix gibt’s!“ entgegen. Dann stelle ich fest, dass im Bread-Pudding Rosinen sind. Rötliche.
Ich schieße keine Möwen tot, ich lass sie lieber leben und füttre sie mit Roggenbrot und rötlichen Zibeben.
(C. Morgenstern)
Ich kann nicht anders. Natürlich kriegen Emma und Emma doch Rosinen von mir zugeworfen, alleine der Poesie wegen. Die Burg allerdings bietet für den aufgerufenen Eintrittspreis viel zu wenig. Die alte Burg ist eine leere Hülle; Die „War-Tunnels“ sind eine durchsichtige Entschuldigung für eine ordentliche Ausstellung; Die neo-gotischen Räume des Neubaus sind ziemlich ansehlich, aber es sind nur wenige zu besichtigen. Würde ich mir bei einem zweiten Besuch sparen.
Ich entdecke noch einen Warhammer- und einen Rollenspiel-Laden, fahre durch einen Park am Flüsschen entlang und bin dann auch irgendwie durch mit Cardiff.
Jetzt kommen die Schafe ins Spiel.
Ich möchte nämlich endlich ins wilde Hinterland, England war schön, aber man kann keine Bierdose da schmeißen ohne zwei Landsitze damit zu treffen. Wales ist anders, je weiter man rauskommt und je öfter man abbiegt, desto höher und karger werden die Hügel und desto enger werden die Straßen. Holy Muttonfucker, bin ich über mein sizilianisches Fahrtraining heute froh gewesen. Die letzten Sträßchen im Nationalpark sind nämlich definitiv nicht für Gegenverkehr geeignet, dafür aber gesäumt mit freigrasenden … Schäfchen.
Am Ende grasen sie dann auch um Gaspard, der nun auf einem Wanderparkplatz im Nationalpark steht. Alleine bin ich hier nicht, hier ist eine kleine Campinggemeinde vor Ort, aber die Schnaks mit den Nachbarn waren alle bis jetzt sehr nett. Und um mich rum erheben sich beeindruckende Hänge.
Brighton,I’m in Love. Ich hatte mir von dem altehrwürdigen Strandbad gar nicht so viel erwartet und wollte nur auf diese alte Pier, aber jetzt, wo ich da war, würde ich sagen: Einer der besten Orte bisher.
Doch der Reihe nach.
Die Pier – also Brighton Palace Pier – ist fantastisch. Es wirkt alles so, als hätte man die 90er und frühen 2000er zusammen eingeschweißt und da bleiben sie nun. Als ich um zehn auf die alten abgewetzten Planken trete wandle ich zuerst einmal durch den großen Eingangspalast, maurischer Stil in viktorianischem Eisenwerk, der heute eine große Daddelhalle ist. Alles blinkt und düdelt. Ich versenke ein paar Pfund in einem Flipper doch ich bin einfach zu schlecht darin habe einfach Pech mit der Kugel.
Daddelhalle
Die Fahrgeschäfte dahinter schlummern noch, nur das Kinderkarusell spielt Orgelmelodien ab. Noch habe ich die Pier ziemlich für mich allein, großartig. Man darf sich einen Liegestuhl von einem Stapel nehmen und über das Wasser starren. Auch das ist großartig. Ich bin definitiv nun verliebt.
Etwas später geht es los, Achterbahnen und Autoscooter fangen an zu laufen, große Gruppen asiatischer Schulklassen besetzen sie und kreischen in jeder Kurve. Vergnügungspark-Atmo. Anders als in Helsinki finde ich nicht, dass ich dringend etwas fahren muss, ich kaufe mir eine Waffel. Der Himmel ist dicht bewölkt, aber es ist trocken heute und der Wind bleibt im Rahmen. Perfektes Shorts-und-Pulli-Wetter.
Sehr Englisch.
Eine Stunde später schlendere ich die Strandpromenade entlang, der Strand besteht leider aus eher ungemütlichen Kieseln. Links und Rechts Büdchen an Büdchen, es riecht nach fritiertem Fisch und Candy. Alle wirken hier sehr entspannt und heiter. Ich finde das privat organisierte Brighton-Museum in einer der Strand-Arkaden, man kann es gegen eine Spende ansehen und einiges über den Fischerort und die Entwicklung des Tourismus lernen.
Nicht weit davon ragt das dürre Skellett der alten Westpier aus dem Wasser, ein trauriger rostiger Stahlstreben-Rest. Anfang der 2000er waren die Pläne zur Restaurierung ziemlich weit gediehen, dann brauchte es zwei Winterstürme und zwei Brandstiftungen, um das historische Gebilde zu zerstören. Man fragt sich, wer ein Interesse daran gehabt haben könnte die Wiedereröffnung einer zweiten Vergnügungspier zu verhindern BlickgehtzurBrightonPiergegenüber …
Übrigens verweist kein Hinweisschild an den Überresten auf diese Story, dazu muss man in das Museum um das Nachzulesen.
Und heute Nacht spielt Peppy dann mit dir ….
Als nächstes kommt mir eine Arkade mit historischen Spiel- und Unterhaltungsautomaten aus den dreißiger bis fünfziger Jahren entgegen. Geil! Man kann mit 10 und 20 Penny-Stücken hier stundenlang Spaß haben, ich schaffe es sogar bei einem Geschicklichkeitsspiel meinen Groschen wieder raus zu spielen. Und der Gruselfaktor der alten Animatronics ist einfach herrlich.
Dann entdecke ich das städtische Brighton.
Brighton gilt als Woke-Hauptstadt Englands, als Gay-Capital, als der Ort, mit der höchsten Lebenszufriedenheit der Einwohner. Ob da etwa ein Zusammenhang besteht? Jedenfalls wirkt die Innenstadt als sei man 1969 in San Franzisko gelandet. Kleine Cafes und Restaurants, jede Menge Second-Hand- und Plattenläden, wenig Ketten, viele private Geschäftsinhaber, alles sehr entspannt und nicht mal so teuer. Google Maps findet alleine drei Rollenspiel-Geschäfte in Brighton.
Ich will sofort einziehen.
Aber ich muss weiter, schließlich will ich noch bis Wales und könnte mich alleine in Süd-England gut und gerne zwei Wochen herumtreiben. Jetzt kommt es allerdings: Auto fahren ist im UK echt anstrengend. Das liegt nicht am Linksverkehr. Das liegt an Design-Entscheidungen.
Ich weiß nicht, ob zuerst Frankreich oder England den Kreisverkehr entwickelt haben, aber ich weiß, wer das Konzept verstanden hat und wer ein irres Monster zusammenbastelt. Der krasseste Kreisverkehr auf dem Weg ist ein riesiger, meilenbreiter Betonkreis mit einem einsamen Baum in der Mitte. Spurlinien und Beschriftungen sind irgendwann unter John Major verwittert, es müssen aber einmal sechs oder so gewesen sein. Fahrt das mal, wenn ihr die vierte Ausfahrt da nehmen müsst.
Dazu kommt, dass ständig und immer viel Verkehr ist. Die Briten sind einfach gerne mit dem Auto unterwegs, da scheinen Roundabouts und vierspurige Autobahnen nicht viel zu helfen. Ich würde gerne den Zustand einiger Straßen als „albanisch“ betiteln, aber ich will auch nicht Albanien ungerechtfertiger Weise in ein zu schlechtes Licht rücken. Nennen wir es also „Thatcher-britische“ Zustände. Dazu kommt eine beknackte Autobahnabfahrts-Philosophie. Stadt Abfahrten führt hier oft die linke (langsamste) Spur zur Landstraße oder zur anderen Autobahn, was bedingt, dass unsichere Fahrer*Innen gerne die zweite Spur benutzen, weil sie sich nicht trauen flott die Spur zu wechseln. Da diese unsicheren Lenkenden aber auch dazu neigen, sehr langsam zu fahren, werden sie gerne links und rechts überholt, was irgendwie das Linksfahrgebot aushebelt.
Auch Parkplätze gibt’s an der Autobahn quasi nicht, es gibt kurze Haltebuchten. Die werde ich ab jetzt nur im Notfall benutzen, man kommt mit einem nicht so durchzugsstarken Fahrzeug kaum wieder auf die linke Spur, vor allem wegen den Überholern, die die Lahmärsche auf dem zweiten Streifen loswerden wollen.
Insgesamt muss man sagen: Im Schiffbau wart ihr früher besser, als ihr im Straßenbau seid.
So richtig geil war die Nacht nicht. Weil ich den einen oder anderen verdächtigen Eindruck von dem Viertel gewonnen hatte, lag ich eher mit einem Ohr wach als dass ich tief schlief. Natürlich war noch lange was los, Leute liefen herum und Autos parkten ein. Bei jedem Geräusch in der Nähe wurde ich wach und lauschte, ob sich jemand am Bus zu schaffen macht.
Natürlich war gar nix.
Trotzdem war ich dann früh wieder wach und begann meinen Tag. Heute war Greenwich an der Reihe als Ziel, und warum gerade Greenwich?
Piraten!
Eigentlich ist Greenhich sehr hübsch und mit der königlichen Marineakademie auch beeindruckend – wenn man um 9.00 morgens ankommt und nicht später, und schon wieder die Sonne scheint. Davor lümmelt die Cutty Sark auf dem Trockenen vor sich hin und vor allem steht da das Marinemuseum. Und das hat gerade eine Sonderausstellung zum Thema Piraten.
Piraten waren schon immer meins. Von allen Playmobilspielzeugen, die ich hatte. war das Seeräuberschiff mein liebstes, ich wollte schon mit 5 oder 6 Jahren Pirat am Fasching machen und ich hatte dieses eine Buch im „Was ist Was?“-Stil zu dem Thema, das ich rauf und runtergelesen habe. Und dann ist da natürlich auch noch das restliche Marinemuseum mit seinen ständigen Ausstellungen.
Nun ja.
Also die Piraten-Exhibition war trotz Kostenpflicht eher so am ganz-ok-Bereich. Am gelungensten war noch der Einstieg, in dem es um die Konstruktion des modernen Klischeebilds des Freibeuters in diveren Medien geht. Alleine, dass es da ein Interview mit Sid Meyer zum Thema „Pirates!“ (1987) gibt, hat mich sehr abgeholt. Der historische Teil bot trotz natürlich cooler Exponate wenig über das hinaus, was mir schon das große Kinder-Piratenbuch kurz vor dem Raubkopieren von „Pirates!“ vermittelt hatte.
Die restliche Ausstellung ist etwas besser, und wenn ich nicht gestern im Imperial-War-Museum gewesen wäre und das gesehen hätte, wäre ich wohl deutlich gehypter rausgelaufen. Das Gebäude selbst und der Aufbau ist der Hammer; Und ich habe Nelsons blutige Socken gesehen. Alle drängen sich um die Uniform des guten Admirals mit dem Einschussloch am Hals, aber seine Socken werden eher vernachlässigt. Vielleicht, weil es nicht sein Blut ist, das an ihnen klebt, sondern das des Offiziers, der in der Schlacht von Tafalgar neben ihm auf dem Kommandodeck stand und der einer französischen Kanonenkugel im Weg stand. Hätte die den Admiral erwischt, gäbe es heute deutlich weniger auszustellen.
Als ich gegen halb zwei wieder aus dem Museum laufe stelle ich zwei Dinge fest: Die Sonne scheint noch immer; Greenwich wimmelt vor Menschen, die meisten sind Ausflügler. Das konzentriert sich aber wieder sehr abgegrenzt auf die halbe Meile zwischen Cutty Sark und Marinemuseum, danach ist es schlagartig rum mit Rummel und die Lewishhamer Südlondoner sind wieder unter sich.
Meine Zeit in London läuft aber ab. Ich entdecke noch einen Straßenmark und kaufe mir eine neue, wollige Schiebermütze mit Bommelknopf, dann radle ich aber zurück zu Gaspar und schnalle Pegasus auf den Träger. Ich will noch Richtung Küste heute und ich weiß, dass ich aus London nicht schnell rauskommen werde.
Witzig: Mir kommt Linksverkehr mittlerweile schon „normal“ vor.
Ich schleiche also erst über die Hauptverkehrsadern, dann über die Autobahn, dann über südenglische Landsträßchen und sitze jetzt in einem Waldstück 10 Meilen nördlich von Brighton.
Eingeschlafen bin ich im düsteren Drizzle und als ich am nächsten Morgen die Bustür aufmache und die Nase hinausstrecke, wie ein eben aufgewecktes Erdhörnchen, blicke ich in wolkenlos blauen Himmel. Damit hätte ich nicht gerechnet.
Ich parke am Fuß eines sagen wir mal Landschaftschutzgebiets namens „One Tree Hill“ südlich von Sevenoaks. Alleine diese Namen klingen nach Karte im Umschlag eines Fantasy-Romans, und als ich mich zum morgendlichen Spaziergang durch den Waldhügel aufmache, mutet mir das ganze schon sehr nach Tolkien oder Merlinsage an. Als der Hügel 1911 für die Öffentlichkeit erworben wurde, mag wohl ein einzelner alter Baum auf seinem Gipfel gestanden haben, heutzutage sind es ein paar Dutzend, aber sie sind tatsächlich sehr alt und groß und es eröffnet sich von da aus dieser Blick über die südenglische Landschaft:
Nicht schlecht, Herr Specht.
Eine Stunde später quäle ich mich durch den frühmorgendlichen Verkehr Londons. Ich kann mich jetzt rühmen, mich mit Gaspard durch die Straßen Palermos, Tiranas und Londons gekämpft zu haben und ich finde, man sollte dafür eine Art Aufnäher für den Ärmel oder so bekommen.
„Europäischer Elitefahrer.“
Wichtiger aber ist vielleicht, dass ich ohne Unfall durchkomme, nicht mal angehupt wegen irgend eines Fahrfehlers werde ich. Nur lange dauert es für die paar Meilen. Am Ziel angekommen gibt es tatsächlich ein paar wenig frequentierte aber breite Seitengassen in einem Randviertel. Es wirkt jetzt nicht wie Londons beste Adresse, ist aber auch kein absoluter Slum. Sieht so aus, als könnte mein Plan aufgehen.
Na, wer lungert denn da vor dem Tower rum?
Und er wird stündlich besser. Nicht nur, dass ich ein nettes Cafe auf dem Weg finde und über die Preise erschrecke, der kürzeste Weg in die City führt auch ausgerechnet über die Tower-Bridge! Also radele ich im strahlenden Sonnenschein mit Pegasus über eben jene viel portraitierte Brücke über die Themse und ich muss sagen: Das ist schon ein würdiger Einmarsch für den alten Tretesel und sein Fahrrad.
Die nächste Stunde ist angefüllt mit Sehenswürdigkeiten Abfahren und das geht mit einem Fahrrad in London super und flott. Ganz ehrlich: Jedes andere Verkehrsmittel in der Stadt ist einfach komplett unterlegen. Einen Eintritt in den Tower erwäge ich gar nicht erst, dafür aber im Falle der St.-Pauls-Cathedral schon. Erkenntis: Nur mit Vorbuchung im Internet (außer man kann glaubhaft versichern, dass man ein echter Christ ist – fällt mir schwer) und dann 30 fucking Pfund eintritt. Holy Shit, anglikanische Kirche! Das würde ich nicht mal für ein großes, schön kuratiertes Museum erwägen, schon gar nicht für eine historische Kirche.
Aber ich weiß jetzt, dass Canterbury ein Schnäppchen gewesen wäre.
Ich radle weiter an der Themse entlang, vorbei am London Eye, Big Ben, Westminster, überrolle keine Touristen, befinde mich nur einmal auf der falschen Spur und erreiche mein eigentliches Ziel zur Mittagszeit: Das Imperial War Museum.
Es ist eines der besten Museen, die ich je gesehen habe. Die Präsentation der Exponate ist hammergut, auch wenn mir in der Ausstellung zum Ersten Weltkrieg ein paar Verallgemeinerungen und eine tatsächliche Verwechslung von Kaiser Wilhelm II. und Hindenburg ins Auge stechen. Aber die spektakuläre Einzigartigkeit verschiedener Exponate ist absolut atemberaubend. Im riesigen Atrium stehen sogenannte „Witnesses of War“ – in dem Fall Dinge – die allesamt unglaublich sind.
Vor einem großen, verbogenen Stück Metall kommt mir ein irrer Gedanke, der lange in mir umgeht. Es handelt sich um ein Stück Fassade des World Trade Centers, es steht in der Abteilung für moderne Konflikte. Ich erinnere mich, dass ich 1998 als junger Mann vor dem WTC stand und an den Twin-Towers emporblickte, die oben im New Yorker Nebel verschwammen. Vielleicht ruhte mein Blick kurz auf eben dieser Fenstersektion, die jetzt rostig und verbogen in London zu sehen ist.
„So sieht man sich wieder.“
Am Ende entdecke ich die Kunstgalerie. Ein grandioser Ansatz: Bildliche Repräsentationen des Krieges werden sich gleichgestellt. Das heißt neben tatsächlichen Werken der malenden Kunst finden sich Beispiele von journalistischer Dokumentation und militärischer Aufklärungsphotographie. Dabei wird weder nach Kriegsepochen sortiert noch nach Entstehungskontext, alle Werke stehen in einem Dialog über das Thema „Krieg.“
Es ist eine richtig gute Ausstellung.
Mein Foto wird der Brillanz des Originals nicht im Ansatz gerecht.
Dann biege ich um eine Ecke und stehe vor ihm. „Gased“ von John Singer Sargent. Ich wusste bis zu diesem Moment nicht, wie gewaltig das Gemälde in seinem Format ist, die Soldaten sind fast lebensgroß. Ich hatte es schon oft gesehen, es ist dutzendfach in Geschichtsbüchern abgedruckt, weil es eben so eindrücklich ist. Aber die Monumentalität des Originals bei der gleichzeitigen Belanglosigkeit der schrecklichen Szene im Kontext des Krieges – die wird mir jetzt klar. Die pastellig hellen Farben, fast impressionistisch und doch exakt in jedem Detail der Männer, kontrastieren den Horror der Giftgasopfer. Und dann sind da die Details, die erst im Großformat bewusst werden. Die fußballspielenden Soldaten im Hintergrund. Die Haltungen der Liegenden im Vordergrund.
„Gased“ ist für mich ein Höhepunkt.
Um 12.00 bin ich in das Museum, gegen 17:30 gehe ich raus, und ich habe längst nicht alles gesehen. Aber ich plane nun den Abend. Das „New Cross Inn“ ist der nächstgelegene Pub an der Hauptstraße hinter meiner Seitengasse und es soll dort Abends Live-Music geben. Pub-Besuch muss ohnehin sein, also nix wie los.
Erster Schreck hinter der Eingangstür: Das Ticket kriegt man nur gegen Kartenzahlung, und ich vermeide immer noch, meiner Bank mehr in den gierigen Rachen zu werfen, als ihr magerer Kundenservice verdient. Ich versuche einen Deal mit einem jungen Typen direkt hinter mir zu schließen: Er zahlt für mich mit und ich gebe ihm den Betrag in Bar. Der Engländer geht darauf ein, und schwuppdiwupp habe ich einen Pub-Freund.
Er wartet hier auf Kumpels, aber die kommen noch lange nicht, und so sitzen wir an einem Tisch und quatschen. Er ist gar kein Engländer, sondern Australier auf der Suche nach den irischen Wurzeln von Papa. Er ist auch gar nicht soo jung, sondern schon dreißig und von Beruf – Englisch-Lehrer. Ein Kollege, Bam! Wir unterhalten uns eine Weile über Schule und Musik, erzählen uns quasi alles, nur wie immer nicht – unsere Namen.
Dann legt die Vorband los, eine lokale Combo namens „Fear of Last Order.“ Man kann den Act ohne unfair zu werden als Seniorenband bezeichnen, mit einer bemerkenswerten instrumentalischen Besetzung: Gitarre, elektrischer Standbass, Schellenkranz, Waschbrett. Sie spielen beliebte Punk-Klassiker von the Clash, den Ramones oder den Sex-Pistols, sie sind laut und engagiert, nicht unbedingt versatil im Spiel, aber mit Spaß dabei. Die Ansagen der Combo verstehe ich kaum, einmal wegen der Soundauspegelung, aber vor allem wegen dem brutalen Akzent.
Der Laden hat sich inzwischen mit einer Mischung aus lokalen Gestalten gefüllt, die ich zum Großteil in die Punk-Szene der 80er-Jahre einordne, Überlebende. Ziemlich coole Gestalten. Dazwischen ein paar junge Yuppies in teuren Hemden und eine Gruppe queerer Trans-Punks, deren Outfit vermutlich ein paar tausend Pfund wert ist. Sie warten auf den Main-Act. Mein Pub-Freund ist inzwischen verschwunden und bei seinen eigentlichen Kumpels, aber das macht gar nichts, ich habe ein zweites Pint.
Dann kommen gegen 20:00 die „The Pogue Traders“, wie ich von meinem Pub-Freund zuvor erfahren habe, die „The Pogues“-Tribute-Band überhaupt. Und ja, viele hier tragen heute Abend Shane MacGowan Shirts. Die Band hat sicherlich 8 Leute auf der Bühne mit allem was zu Irish Folk gehört: Quetschkommode, Tin Whistle, Banjo alles da. Und sie lassen sich nicht lang bitten, es ist quasi ein absolutes Best of the Pogues, ziemlich nah am Original. Nach dem dritten Song kocht der Pub. Am Ende des Abends gröhlen alle „Dirty Old Town.“ Danach grölen alle „Farrytale of New York.“ Im August. Aber Herrgott, ist das schön.
Ach Leute, was für ein ereignisreicher Tag. England ist erreicht, ich lebe noch und sitze im Wald. Ich bin jetzt von einem anderen Camper neidisch ob meines ebenen Stellplatzes beäugt worden und einmal wurden wir von Locals angehupt. Camperglück.
Zeit um mal den heutigen Tag zu sortieren. Es ist so viel passiert, dass ich mal versuche das nach Großthemen zu organisieren.
Thema 1: Die Kanalküste ist echt hässlich
Vielleicht lags am schlechten Wetter, aber man darf sich an diesen bombastisch breiten Stränden echt nicht umdrehen. Sobald man die Landschaft dahinter erblickt zeigt sich wenig, das dem Blick schmeichelt. Alte, rostige Fabrikkomplexe, anklagend in den Himmel ragende Kräne, vernachlässigt wirkende Höfe. Selbst die Dörfer wirken niedrig und geduckt, sie ziehen sich ewig entlang der Straße, aber gleich hinter der Häuserreihe nur noch Kanälchen und sumpfige Wiesen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das jetzt hier die „Stis“ sind, aber ich habe da mal einen Film gesehen, und das könnte passen.
Thema 2: Fähre fahren ist auch keine Lösung.
Man muss sagen, dass der Ablauf ganz reibungslos war. Er war aber auch unendlich lang. An den Check-In gefahren bin ich um ziemlich genau 9:30, auf der Fähre war ich dann gegen 11:20. Das hat Flughafenqualität. Vier mal musste ich den Pass vorzeigen, danke Boris Johnson. Und danke an alle Grenzkontrollenfreaks zuhause, die sich einfach sicherer fühlen, wenn unbescholtene Leute an der Grenze in einem langen Stau warten. Alleine die Kosten, die dem Staat entstehen, damit man feststellt, dass bei 99% aller Grenzgehenden alles absolut in Ordnung ist. Aber na ja, Opa Ernst mit seinen Sicherheitsbedenken regiert die Welt.
Die Isles of Inismore ist schon etwas in die Jahre gekommen und weint deutliche Rosttränen. Jede zweite Toilette ist gesperrt und die Wechselstube bescheißt dich locker um 5 Pfund pro hundert eingewechselter Euro. Das WiFi ist free aber unzuverlässig und alle Fenster sind wie immer nahezu blind. Die einzige Fähre mit durchsichtigen Fenstern, die ich kennengelernt habe, war eine finnische Fähre. Aber meine Linie fuhr zuverlässig. Das Wetter auf dem Ärmelkanal war dunstig grau, der Wind pfiff brutal auf dem Oberdeck und die white Cliffs of Dover schälten sich eher gelangweilt aus dem Dunst. Trotzdem ganz beeindruckend.
Die Grey Cliffs of Dover
Thema 3: England ist anstrengend zu fahren.
Das liegt aber nicht am Linksverkehr. Mit dem kam ich bis jetzt einigermaßen zurecht, man muss sich nur regelmäßig halblaut „links“ vorsagen, wenn man irgendwelche Fahrmanöver unternimmt. Was einen wirklich stresst, sind die Kreisverkehre, teilweise oval und mit 8+ Ausfahrtrichtungen. Die muss man auf der richtigen Spur anfahren und dann rechtzeitig vor Ausfahrt 6 auf die Außenspur wechseln. Anspruchsvoll. Natürlich ohne das Fahrzeug aus der ungewohnten Richtung zu übersehen. Problem zwei sind die kleinen Landsträßchen. Sie haben etwas Sizilianisches, in der Hinsicht, dass nie und nimmer zwei normale Autos aneinander vorbei fahren können. Darüberhinaus werden sie aber hierzulande von dicken grünen Büschen gesäumt, die die Vorraussicht einschränken und das an den Rand Fahren für den Gegenverkehr nicht unbedingt erleichtern. Gut, dass ich durch die süditalienische und albanische Fahrschule gegangen bin.
Thema 4: Canterbury Tales
Canterbury, in der Schüssel.
Meine Güte, ist das Städtchen pitoresk! Von der erhaltenen Stadtmauer bis hin zu den mittelalterlichen Sträßchen, alles sieht so aus, als würde ein 50er-Jahre-Film-King-Arthur jederzeit um die Ecke reiten. Oder J. K. Rowling durch eine Butzenglasscheibe brechen und wahllos Queerfeminist*Innen beschimpfen. Jedenfalls verströmt Canterbury auf Straßenniveau deutliche Krakau- oder Porto-Vibes, alles ist auf die strömenden Touri-Massen abgestellt. Die sind mächtig und schwappen wie eine internationale Suppe in einer Schüssel hin und her. Sobald man die Stadtmauer hinter sich gelassen hat ist Canterbury nur noch ein verschlafenes Kleinstädtchen. Die Kathedrale benötigt eine Reservierung und kostet 20 Pfund, bei all den bedeutsamen Kirchen in diesem an bedeutsamen Kirchen nicht armen Jahr sagte ich mir: Spar dir den Aufwand. Dafür habe ich die Leihbücherei von Kent entdeckt, die hat alte Bücher verkauft. Leihbibliotheken sind immer irgendwie gleich und ich habe gleich warme Kindheitserinnerungen bekommen. Da mein Roman in Stuttgart vergessen wurde, habe ich mit für ein Pfund einen Science-Fiction-Klassiker gekauft (kennt jemand John Brunner? Ich nicht). Das Buch hat den original Bibliotheks-Zettel drin und ist damit ein eigentlich unbezahlbares Reisesouvenir.
Morgen erwartet mich London. Es gibt offensichtlich einen Parking Spot außerhalb der Maut-Zone, von dem man in 25 Minuten mit dem Rad an den Tower von London fährt.
Belgien ist größer, als man denkt. Ich bin heute morgen eine ganze Weile zwischen Feldern und Hügeln herumgedüst, bis ich die französische Grenze erreichte. Die Namen, die vorbeiziehen, sind deutlich mit Geschichte aufgeladen: Brüssel, Gent, Namur. Das Wetter ist annähernd sonnig geworden. Beim Fahren kommen auch Erinnerungen an meinen ersten großen Bus-Trip 2020 wieder, als ich heute die Yser überquere und dieser seltsame Flamenturm als Sehenswürdigkeit angezeigt wird.
Mein Ziel heute: Dunkerque.
Zwei Gründe: Es liegt erstens nur einen Katzensprung von Calais weg, wo ich eine Fähre kriegen muss; ich war noch nie da. Christopher Nolan hat vor vielen Jahren einen Film über den Hafen gemacht, von dem viele glauben, es geht um eine Weltkriegsepsiode, aber eigentlich geht es um ablaufende Zeit (das ist bei Nolan nicht neu). Er ist filmisch hervorragend.
Die historische Episode dahinter, die Evakuierung der britschen (und einiger französischer) Streitkräfte 1940 mit all ihrer Dramatik kann man im Internet nachlesen. Seitdem ist der Name der Stadt mit dieser Episode verknüpft.
Kein echtes Kriegsmuseum ohne Kanone oder Panzer vor der Tür!
Das dazugehörige Museum gehört zu jenen Kriegsmuseen, das sich nicht zwischen der guten alten Zeit der Schaufensterpuppen und Waffenvitrinen und moderner Museumspädagogik entscheiden kann. Man kommt aber mit einem Lehrer*Innen-Ausweis verbilligt rein. Zumindest die Wrackteile verschiedener Schiffe, die bei der Evakuierung versenkt wurden, erzeugen eine durchaus bedrückende Atmosphäre und auch das Lied des Heldentums wird vergleichsweise dezent gesungen.
Kann man sich ansehen.
Dunkerque selber ist ein nicht allzuhübscher Industriehafen, wirkt dafür aber noch ganz nett. Die Fahrrad-Infrastruktur ist bisher ungesehen und das beste, was ich je auf den Reisen erlebt habe. So geht’s also auch. Aber ich drehe nur eine kurze Runde auf dem Fahrrad, denn ich will nun endlich ans Meer.
Es werden nun echt Erinnerungen an den Anfang meines Jahres wach, denn es begann auch alles quasi mit einem Barfußspaziergang über einen wahnsinnig breiten Weltkriegsstrand. Damals konnte ich mein Glück kaum fassen, weil dieses Jahr vor mir lag, jetzt schließt sich der Kreis und es ist alles ein bisschen von Abschied geprägt. Der Wind dreht auf dem Strand völlig ab, es ist Ebbe und von den Dünen bis ans Wasser ist es weit. Diverse Reste der Kriegsjahre sind zu besichtigen, unter anderen das Wrack der Crested Eagle, das nur bei Ebbe sichtbar wird. Viel ist von dem nicht gerade kleinen Dampfer nicht mehr zu sehen nach 85 Jahren. Darüber hinaus sind die Dünen mit langsam herabrutschenden Bunkern und Batterien des Atlantikwalls übersäht, in einer Dichte, wie es mir in der Normandie nie unterkam.
Die Crested Eagle300 Leute starben im FeuerRutschbunkerAtlantikwall gefällig? Bitte.
Nach etwa einer Stunde Strandspaziergang und ständig auffrischendem Wind sitze ich jetzt an einem kleinen Kanal im Hinterland. Morgen geht’s über den Ärmelkanal – zum ersten Mal in meinem Leben. Und meine Zeitplanung auf der Insel wird wohl doch sehr sportlich.