Wo genau das Land zu Meer wird ist nicht wirklich zu bestimmen. Der Weg auf den Deich ist bereits von einer zunehmenden Abnahme des Festlandes geprägt, Kanäle, Gräben und Siele durchziehen das Land, das nur noch aus Äckern besteht, auf denen jetzt im Oktober niedriges Kraut wächst. Bäume sind definitiv Mangelware. Das, was der Mitteleuropäer als allgemeines Bild der „Landschaft“ mit sich trägt, wird zunehmend weniger. Der Wind bläst hier oben ganz schön kräftig um die Nase, ich fröstele leicht trotz dickem Pulli unter der Jacke.
Auch hinter dem Deich beginnt das Meer nicht , es fängt nur an zu dominieren. Zunächst kommt die harte, graue Deichstraße, einige Schafe blicken mich neugierig darum herum an, lassen sich aber vom entspannten Wiederkäuen nicht abhalten. Dahinter: Salzwiesen, zumindest glaube ich, dass das der Name dafür ist. Nicht zu verwechseln mit einer volkstümlichen Alpenwiese oder gar einem biologisch sterilen Gartenrasen, hier wachsen Spätblüher und seltsame Kräuter, die entfernt schon an Meeresgewächse erinnern. Einige holländische Kühe grasen die Fläche in mittlerer Entfernung ab, aber mein Schuhwerk ist für die Begehung dieses Zwischenreiches definitiv zu schlecht. Dazwischen immer wieder Kanäle und Abläufe sowie morsche Bohlenreihen.
Dahinter: Das Watt, dieser graubraune Pudding, der prototypisch für die Halbwelt an dieser Stelle ist, eine Trans-Existenz, die je nach Tageszeit als begehbares Land oder flüssiges Wasser auftritt. Gerade ist Ebbe, so dass sich die glatte, spiegelnde Sandfläche unendlich weit zu erstrecken scheint. Fast. Denn dahinter ist es endlich in der Ferne zu sehen, bleigrau unter diesem Oktoberhimmel, das Meer. Weit draußen liegen einige größere Schiffe auf Reede, ihre Aufbauten sind zu sehen, in Wartestellung auf ein geheimes Signal, das sie reaktiviert.
Ich bin an diesen Punkt geraten, in dem ich in Groningen den Entschluss fasse, noch ein Stündchen an die Küste zu gehen und zwar auf dem schnellsten Weg. Im Grunde habe ich nur einen Ping auf der Kartensoftware gesetzt, dort wo mir das Satellitenphoto noch eine graue Linie als Straße versprach. Mich dann hier her navigieren zu lassen war dann recht abenteuerlich, den auch schon wieder älter werdenden Opel habe ich hinter dem ersten Deich zurücklassen müssen und bin zu Fuß über die Felder gegangen.
Ich bin an diesen Punkt geraten, weil ich 2012 ein Formular ausgefüllt habe. Im Grunde war es derselbe Vorgang: Einen Ping ins Unbekannte setzen, dort wo ich mir etwas versprach. Was mich dort genau erwartet, das wusste ich nicht und stellenweise bin ich noch heute überrascht.
Ob Küstendeich oder Freistellungsjahr: Es hat sich gelohnt.
Ich bin an diesen Punkt geraten, weil wenig im Leben klar beginnt und endet. Wir bewegen uns in Übergängen voran. Und genau so, wie das Festland, wie Europa einige Phasen und Metamorphosen braucht, bis es zum Meer wird, genau so wie ich hier keine feste Trennungslinie zwischen Holland und Nordsee ausmachen kann, genau so frage ich mich an diesem wechselhaften Oktobertag, wo denn meine alte Existenz endet /enden wird und wo ich ankomme in diesem anderen Jahr.
Bis jetzt hat es mir unendlich Zeit und Drucksenkung gebracht. Ich genieße es, momentan geht es mir fantastisch. Dass gerade keiner Ansprüche auf mich erheben kann, tut mir sichtlich gut. Dass ich meine Tage gestalte und nicht andere Menschen oder Systeme, gibt mir ein lange vermisstes Freiheitsgefühl zurück. Und ich stehe erst am Anfang.

Die Schafe beobachten mich noch immer. Der Himmel ist wolkenverhangen, sehr niedrig und unendlich weit um mich herum. Manchmal brechen Sonnenstrahlen durch eine Bresche und tauchen Teile der Herbstlandschaft in gleisendes Licht. Ich stehe mutterseelenallein auf einem Deich in Westerwolde, es ist ein normaler Montag um die Mittagszeit. Und ich kann ohne schlechtes Gewissen hier auf das Meer am Horizont starren.
Natürlich ist alles anders, als ausgemalt. In Groningen, im Cafe, dachte ich an einen Sandstrand, an Muscheln, an eine Brandungslinie, durch die man mit hochgekrempelter Jeans waten kann und spannendens Strandgut findet. Wenn man erst einmal da ist, stellt man fest, dass sich die Wunschvorstellung nicht bewahrheitet. Aber die Freude liegt nicht in dem, was man sucht, sondern in dem, was man trotzdem findet.
Und im Grunde ist dieser Augenblick am Meer eine riesige Metapher auf mein Jahr raus.
Ich bin endgültig im Übergang angekommen.
Hach … so in love … mit diesem Text 😍
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Oh – ich bin sehr geschmeichelt … :))
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Da sitzt man im Zug zur Dienststelle, seichte Akkorde im Ohr, liest dies und gerät ins Reflektieren…
Danke für die Impulse und nur dir liebsten Grüße!
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🙂 Gerne. Danke für das schöne Feedback.
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