Neckarstraße, Urbanstraße und weiter nach Südwesten trinken.

Zwei auf dem Weg quer durch den Braukessel

Es gibt noch Achsen durch Großstädte, die abseits der hippen Partyzentren und gefönten Szene-Locations liegen, an denen man entlang noch eine gewisse Diversität und Originalität entdecken kann. Diese Achsen sind nicht hübsch, nicht designed und stellenweise nicht einmal renoviert, aber sie verströmen ein gewisses Feeling.

Mein sehr guter Freund und Tresenkumpel Ulrich, der sichtlich etwas angenervt davon war mit der usual crowd am usual spot zu enden, entwickelte im Sommer letzten Jahres das Projekt, sich an einer dieser Nebenachsen entlang zu trinken, immer ein Bier pro Kneipe, und dann zu sehen, wohin man kommt. Saugute Idee! Unsere Spur beginnt nicht unweit des Neckars und führt dann grob südwestlich einmal durch den Kessel.

Ich muss sagen, dass diese Entdeckungstour über Stuttgarts Barhocker abseits der ausgetretenen Pfade mir sehr große Freude bereitete. Auch wenn wir das Projekt immer nur mit einigem Abstand weiterverfolgen, führt es uns doch zu spannenden Entdeckungen und zu einem sicheren Kater am nächsten Morgen. Ich will die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, diese Sauftouren hier zu dokumentieren und einen völlig subjektiven alternativen Kneipenführer aufzulegen, zur gefälligen Beachtung von allen Stuttgartern und Gästen, die nach dem „echten“ Stuttgart abseits vom Hans-im-Glück-Brunnen suchen.

Die drei Regeln der Tour:

Erstens: In jeder Kneipe nur ein Bier

Zweitens: Wir nehmen jede Location, die von außen minimal akzeptabel wirkt (Gummiparagraph)

Drittens: Wenn wir besoffen sind gehen wir nach Hause.

Die erste Tour: September 2019, von den Mineralbädern zum Stöckachplatz

Station 1.1: Flora & Fauna, Schlosspark, ggü. Mineralbäder.

Als willkürlichen Startpunkt hatten wir uns kurz nach den Sommerferien das „Flora und Fauna“ ausgesucht, im Grunde nicht viel mehr als ein Pavillion gleich neben der U-Bahn-Haltstelle. Die Location ist etwas schwer zu beschreiben, es ist nicht ganz Biergarten, nicht ganz Lokal, nicht ganz Weggehszene, das Publikum ist für einen Biergarten zu jung und urban, der Bierfluss für ein Lokal zu üppig, für einen Szeneschuppen das Konzept zu unzeitgeistig. Der Laden war gut voll (ich glaube, es war ein Freitag), wir hatten uns über die Ferien nicht gesehen und viel zu quatschen. Also verstoßen wir gleich gegen Regel Eins: Pro Kneipe nur ein Bier! Wir trinken zwei, das geht im Flora und Fauna auch gut und wird sich noch rächen.

Station 1.2: Café Dream Bar, Neckarstraße

Ab hier begann sie, die ungeliebte Neckarstraße, das hässliche Entchen, das zum SWR-Gebäude und weiter führt, in dessen Mitte die Straßenbahn scheppert (In Stuttgart etwas großkotzig „U“ genannt) und der Verkehr sich schiebt. Wir folgen der Regel Nr. 2, bis jetzt kam auf dem ersten Kilometer nicht viel außer ein Thai-Restaurant und eine Shisha-Bar. Also landen wir im „Café Dream Bar“, einer Kneipe, die sicher eine ziemliche Tradition hat (rustikale schwäbische Wirtshausarchitektur), wenn auch eventuell nicht unter dem aktuellen Pächter. Sie ist noch nicht mal auf Google Maps verzeichnet, ungentrifizierter geht’s also nicht. Ulrich und ich steuern die Bar an, wie es sich für eine Kneipentour gehört, und werden sofort von dem unbestimmten Gefühl einer gewissen Exotik, einem Eindruck von kulturellem Exil umfasst. Die freundliche Dame hinter dem Tresen lächelt uns mit diesem Blick an, der sagt: „Ich weiß nicht, wie ihr euch hierher verirrt habt, aber schön, dass ihr uns gefunden habt.“ Während der dritten Halben an diesem Abend (es zeigt seine Wirkung) rätseln wir über den Standort der schmachtenden Musik aus dem Lautsprecher, der kehligen Sprache und der dunkelhaarigen Locken um uns. Schließlich beim Zahlen fragen wir mutig: und siehe da, die meisten hier sind Griechen, anscheinend aus der Ecke um Thessaloniki. Na, dass ich das nicht erkannt habe … Griechischer Wein 2019. Weiter geht’s, bei zwei Tresen können wir es nicht belassen, das wäre ein peinlicher Start.

Station 1.3: Bonnie & Clyde, Neckarstraße

Im Wissen, dass der nächste Humpen ziemlich sicher unser letzter für den Abschnitt sein wird, entdecken wir zwischen Metzstraße und Stöckach das „Bonnie & Clyde“, in der Kneipenszene offensichtlich kein gänzlich Unbekannter, für uns beide aber neu. Innendrin empfängt uns gepflegte alternative Atmosphäre, nicht Mainstream, aber unprätentiös. Den Zapfhahnturm bedecken Aufkleber diverser Bands, Spezialität sind hier anscheinend Burger, eine Schale mit Gummibärchen lädt zum nebenher futtern ein. Publikum wirkt sehr sympatisch, die Musikauswahl auch. Schade, dass wir schon so betrunken sind. Wir leeren unsere Krüge, zahlen und gehen heim. Ende Teil 1.

Die zweite Tour: Dezember 2019, vom Stöckachplatz zum Charlottenplatz

Station 2.1: Bonnie & Clyde, Neckarstraße

Am Sonntag vor Weihnachten gehen wir die Fortsetzung unseres Querschnitts an. Da wo man im Herbst aufgehört hat muss man im Winter wieder starten, so das eherne Gesetz der Kneipentour. Außerdem ist das Bonnie & Clyde auch nüchtern nochmal einen Besuch wert. Ambiente, Publikum, Musik – check. Bisher der schönste Tresen auf der Tour. Diesmal bleiben wir aber eisern bei der Regel – jeder Laden nur ein Bier. Man lernt aus seinen Fehlern und zieht hinaus in die vorweihnachtliche Kälte im Kessel. Ich bin mir sicher, der Winterabschnitt unseres Querschnitts wird uns relativ schnell wieder in irgend eine Location treiben, ab hier beginnt das thekentechnische Neuland.

Station 2.2: Super China & Pizza Service, Neckarstraße

„Kuck mal, das ist ja fast schon ein Späti!“ ruft Ulrich mit der tiefen inneren Liebe in der Stimme aus, die nur der Schwabe zustande bringt, wenn er etwas Berlinähnliches entdeckt. Tatsächlich offenbaren drei Kühlschränke und mehrere Regale ein relativ üppiges Getränke- und Süßkramangebot. Ich bin von den kalten Neonkacheln in dem Lieferdienstkabuff weniger überzeugt, aber Uli erinnert mich eisern an Regel Nummer 2. Also trinken wir zwei thailändische Nulldrei, während der etwas bullig wirkende Pizzaservicechef in einer nicht erkennbaren Sprache am Telefon auf seine Fahrer einbrüllt. Diesmal fragen wir nicht nach, es klingt ein wenig so als keifen Rote Khmer auf vermeintliche Feinde des Kommunismus ein. Gegen später kommt noch ein Typ mit Iro, südländischem Teint und Tarnfleck-Pulli dazu. Gemütliches Bier ist anders, aber mehr unprätentiöse Unverfälschtheit ist in Stuttgart vermutlich nicht zu bekommen. Alle wirken froh, als wir gehen.

Station 2.3: Kraftpaule, Kreuzung Neckarstraße/Heilmannstraße

Kontrastprogramm und Kulturschock in Megawattstärke. Der „Kraftpaule“ ist ein Craftbeer-Edelschuppen, der von unserem innigen Wunsch das Authentische zu finden nicht weiter weg sein könnte. Dafür sitzt man an der Bar gemütlicher als man im Pizzaspäti herumsteht und das Fräulein hinter der Theke ist sehr nett. Wir sind auch die einzigen, die an der Bar rumhängen, der Laden ist einigermaßen gefüllt, aber alle hocken gesittet an Designer-Bistrotischchen. Wir schlürfen ein Bier aus nem Cognag-Schwenker zu Cognac-Literpreisen und ich betone, wenn die Barfrau gerade nicht hinhört, sequenzergleich, wie sehr ich diese Craftbeer-Scheiße eigentlich verachte. Dafür ist das Zeug ziemlich stark, wir erreichen mit dem Kraftpaule das Stadium des Besoffenseins und ziehen zu unserer letzten Station für heute – wo immer sie liegen mag. Shit, das Craftbeer war tatsächlich lecker, so was Dummes.

Station 2.4: Goldmarx, Charlottenplatz

Die Urbanstraße ist ewig lang und führt an zahlreichen höheren Bildungsanstalten vorbei, was heißt, dass hier kein Geld zu holen ist, was sich in der Abwesenheit von Kneipen äußert. Uli erzählt mir von Erlebnissen auf der hiesigen Musikhochschule, eine private Weihnachtsfeier in einem beheizten Partyzelt winkt hastig ab, als wir zwei grinsende Gestalten durstig darauf zu wanken. Schließlich landen wir im „Goldmarx“ in der Unterführung am Charlottenplatz, in dem wir beide schon mal bei einem Konzert waren, mit angenehmen Erinnerungen an die Band und den Tischkicker. Das Goldmarx“ rangiert irgendwo zwischen Club und Veranstaltungsschuppen.

Am Eingang raunt Uli irgendetwas von „Holla ist da etwa Black Night?“, aber bevor ich das verarbeiten kann stehen wir vor dem Türsteher, der uns mitteilt, dass der Eintritt eigentlich 10 Euro ist, aber uns würde es nur noch zwei Euro kosten. Für beide.

Lachend bewerfen wir die Security mit zwei Euro (natürlich nur innerlich) und stehen dann – in der Black Night. Das ist wörtlich zu nehmen. Es gibt nämlich keine Weißen hier. Also, außer Ulrich und mich, alle anderen hier sind People of Colour. Als Resultat stehen wir beide als die weißesten Weißbrote, die jemals krustenfrei aus dem Ofen kamen, an der Bar und fühlen uns endlich einmal als Minderheit. Das ist heilsam. Die Stimmung scheint am Siedepunkt zu sein, alle rennen wild zu den dröhnenden Beats durch den Stagebereich, eine ganze Horde von DJs und MCs produziert einen echt tanzbaren Sound. Von Madagassen, Senegalesen bis Kariben scheint sich hier alles zu versammeln, was dunkle Hautfarbe hat. Punkt 12 – es ist ja Sonntag – macht das DJ-Team so plötzlich Schluss, als habe man der Veranstaltung dem Stecker gezogen. Bis Ulrich vom Klo zurückkommt ist der Laden wie leergefegt, wir kapieren plötzlich, warum man uns vor einer halben Stunde „nur noch“ einen neuen Heiermann abverlangte. Aber gut so: Denn wir sind wieder pegeltechnisch am Point oft Return und schlingern zur Haltestelle. Bis zur nächsten Tour.

Denn das kann noch nicht das Ende des Kessels sein! To be continued in 2020 …

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