Tag 12 seit dem Close-Down aller Veranstaltungen, Tag 11 nach der Schließung der Kneipen und Clubs, Tag 9 nach der Schließung der Grenzen, Tag 8 nach dem Öffnungsverbot für alle Geschäfte, die nicht versorgungsrelevant sind, Tag 1 nach dem allgemeinen Gebot, sich maximal zu zweit in der Öffentlichkeit zu versammeln.

Im Moment bin ich nicht mehr groß in der Lage, auf das Schicksal zu fluchen. Der Mensch beginnt sich in den absonderlichsten Situationen zu arrangieren und richtet sich irgendwie ein. Ich schätze mal, das macht uns zur dominanten Spezies auf diesem Planeten.

Natürlich gleich nach dem Virus.

Heute bin ich schon zum zweiten Mal zu einer kleinen Wanderung auf dem Kappelberg aufgebrochen. Früher hätte man mich mit der Aussicht, sinnlos doof einige Stunden durch ein Stück Landschaft zu laufen, ohne Spurensucher-Background, zu einem freundlichen „Nein, Danke“ verleitet. Plötzlich möchte ich die wenigen Dinge, die man außerhalb des Hauses noch tun kann, möglichst genießen, bevor sie eventuell auch noch in der Versenkung verschwinden.

Ich habe dabei mindestens fünf Minuten ein ziemlich unaufmerksames Eichhörnchen beobachtet, dass mich einfach nicht wahrgenommen hat. Von wegen „die übermenschlichen Sinne der Tiere.“ Ich musste nur mucksmäuschenstill auf dem Weg stehen bleiben, und das kleine Rotpüschel wieselte kontinuierlich weiter in meine Richtung, Nase dicht am Boden. Am Schluss saß es zwei Meter über mir auf einem Ast und stieß diese keckernden, glucksenden Rufe aus, die man nur selten von Eichhörnchen zu hören bekommt. Wieso designed die Natur etwas, das in jedem Aspekt so unglaublich niedlich ist, wie das Eichhörnchen, und andererseits dieses blöde Virus? Soll das eine Art Balance sein? Ich könnte nur mit niedlich super.

Man arrangiert sich. Gestern Abend habe ich zum (fast) ersten mal per Skype Rollenspiel betrieben, mit meinen alten Ravensburger Nasen. Es war schön die Leute zu sehen, auch weil man weiß, dass man sich lange nicht mehr im echten Leben zu Gesicht bekommen wird. Wir gehen stark davon aus, dass unser geplantes Treffen im Mai nicht möglich sein wird. Der Stream hatte diverse Probleme, vermutlich weil jetzt jeden Abend halb Deutschland im Netz Filme zieht und Videochats macht. Aber insgesamt ging es und es war möglich, einen unterhaltsamen Rollenspiel-Abend zu verbringen. Mittlerweile habe ich schon die zweite Online-Runde mit den Leuten von der Heinz-Con verabredet, so lange das Netz läuft, ist man nicht alleine.

Physical Distancing statt Social Distancing.

Überhaupt laufen mittlerweile alle Medien-Kanäle hier auf Hochtouren. Auf dem Rechner sind Skype, Discord und Telegram installiert, das Handy scheppert über Whatsapp und Threema. Das Netz ersetzt zunehmend das frühere reale Leben, Freunde werden zu pixeligen Bildern, zu Kontaktanfragen, zu hastig getippten Kurzbotschaften. Stundenweise artet das Einlaufen von Nachrichten auf allen Kanälen fast in Stress aus. Eine gute Freundin beeumelt sich im Chat, weil ich ihr schreibe: „Von all meinen digitalen Peripheriegeräten ist das Handy das langsamste und dümmste.“ Ich finde das eigentlich nen ganz ordentlichen Satz von mir. Ich weiß nicht, was daran so komisch war.

It’s funny cause it’s true.

Hauptsache man hat noch was zu lachen. Ansonsten renoviere ich viel im Kulturverein. Auch da ist natürlich alles abgesagt, aber als Verein mit städtischem Zuschuss ist die Lage nicht ganz so bedrohlich wie für ein Theater. Ich habe schon den neuen Putz an den neuen Türen geweißelt und eine Treppenhauswand in beruhigendem hellgrün gestrichen. Diese Woche mache ich einen Toilettenboden neu (sind keine Fließen, sondern irgend eine Gummifarbe) und wenn die Krise noch lange geht, dann gibt’s noch eine Hintertreppe, die man komplett renovieren könnte. Falls man ehrenamtliches Handwerkeln nicht auch noch untersagt.

23.03.2020, 20:57: 27.289 Infizierte, 115 Tote, 422 Gesundete.

Momentan steigen die Infiziertenzahlen wieder langsamer. Kann mir jemand erklären, warum die John-Hopkins-Universität grob 5.000 Infizierte mehr meldet, als das Robert-Koch-Institut? Auch das weckt nicht gerade Vertrauen. Bis 60-70 % der Deutschen die Krankheit durch haben, das geht dann wohl noch ein bisschen. Länger. Als ihr alle glaubt.

Das Flugbuchungsportal schreibt mir, dass meine Fluggesellschaft nun den Flug am 20. April gecancelled hätte, man würde mir den Betrag gutschreiben, gesonderte Email folgt demnächst. Ich frage mich, ob ich eine Gutschrift aus Mitleid mit der wirtschaftlichen Lage des Flugbuchungsportals akzeptieren soll, oder Schritte in den Weg leiten, damit ich den nicht ganz billigen Flug nach Moskau ausgezahlt bekomme. Andererseits: Wenn die pleite gehen, ist meine Gutschrift vermutlich nichts mehr wert. Außerdem sind Flugbuchungsportale ja auch keine sibirischen Tiger, die für die Welt ein Verlust wären.

Etwas Sorgen macht mir der Zustand der Welt nach der Krise. Also: der mögliche Zustand. Eine Freundin schickt mir ein extrem optimistisches Video eines Wiener Zukunftsforschungsinstituts. Nach der Pandemie werden die Rechten besiegt sein, der CO2-Verbrauch im Griff und die Digitalisierung vollzogen. Der 8 Minuten-Film ist durchzogen mit Stock-Videos von glücklichen Menschen auf Hausdächern, mit optimistischen Elektrobeats unterlegt und von einem sympathischen jungen Schauspieler durchmoderiert. Was dazu führt, dass ich ihm nicht ganz glaube. Ein bisschen wirkt es wie Werbung für Handytarife.

Ich bin gespannt, wo wir / wo ich / wo die Welt in einer Woche, in 10 Wochen, in einem Jahr stehen wird. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass seit 1989/1990 kein solcher Epochenumbruch stattgefunden hat. Hoffentlich bricht es mal wieder ins besser-als-zuvor um.

Tatsächlich aber denke ich: Das wird spannend.

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3 Kommentare

    1. Vielen Dank für den Link. Auch der Spiegel hat in den letzten Tagen irgendwo die Datengrundlage der beiden Systeme erklärt, das machte mich schlauer in der Frage … Und auch Lothar H. Wieler hat ja zu den Differenzen auf seiner letzten Pressekonferenz Stellung genommen (nehmen müssen). Jetzt wissen wir es: Andere Forscher machen eine „Hochrechnung,“ er das „amtliche Endergebnis.“ Ok …

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      1. Ja, genau. Und die Abweichungen sind ja meistens auch gar nicht soooo riesig.

        Ich bin übrigens auch gespannt, wie es weitergeht, wenn das Schlimmste überstanden ist. Es ist eine beispiellose Situation und ich schwanke beständig zwischen der Hoffnung, dass man jetzt mal was draus lernt, was Themen wie systemrelevante Berufe, Gesundheitssystem etc angeht … und dem Pessimismus, dass das einfach wieder NICHT passiert.

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