Tag 73 seit dem Close-Down aller Veranstaltungen, Tag 65 nach der Schließung der Clubs, Tag 69 nach der Schließung der Grenzen.
Ich glaube es nicht. Ich stehe in der Königsstraße und sie wimmelt von Leuten. „Wie im Frieden …“ geht mir durch den Kopf, so Vierzigerjahre-Aussprüche setzen sich in einem Hinstorikerhirn irgendwie mit der Zeit fest. Es ist ein unglaublich schwüler Freitag Nachmittag in der Stuttgarter Innenstadt, die Menschen wimmeln mit Einkaufs- und Eiscremetüten durcheinander, dicht an dicht, kein Polizeihubschrauber schwebt darüber, um mit Megafon und Tränengaspistole die Masse auseinander zu treiben. Abstandsregel Ade.
Für eine Sekunde habe ich das Gefühl, die Pandemie sei nur ein böser Traum gewesen oder ein schlechtes Open-World-Szenario.
Dann fällt mir auf, dass das Ameisengewühl vor den Läden seine Maske aufzieht, weil man ja sonst nicht hinein darf, und es dort im Vergleich zur Straße relativ leer bleibt. Ah, doch, es war Realität. Auch im Schlossgarten, den ich als nächstes durchquere, das selbe unwirkliche Bild: alles sieht aus wie im Mai 2019, Leute liegen auf der Wiese, trinken Sixpacks, Hunde rennen umher, Radfahrer klingeln sich herrisch durch die Massen, Frisbees fliegen … Ich bin verabredet zum ersten Restaurantbesuch seit die Ankunft die Seuche in mein Bewusstsein drang und ich finde den Anblick atemberaubend. Irgend etwas zwischen völligem Wahnsinn und Befreiung.
Ein paar Dinge im Infektionsgeschehen gehen ja schon länger über mein sehr eingrenzbares naturwissenschaftliches Weltbild: Warum höllenländliche Fuchs-und-Hase-Landkreise wie Greiz oder Reutlingen auf der Infektionskarte dunkelrot sind und dichtgepackte Großstädte gerade mal hellgrau, dafür haben eventuell die Virologen eine Erklärung, ich aber nicht. Müsste nicht die höhere Dichte an Menschen pro Quadratkilometer zu mehr Infektionen mit schwerem Verlauf führen? Auch andere Fragen kommen in den letzten Tagen auf. Warum müssen Theater noch geschlossen sein, aber Indoor-Spielplätze haben irgendwo in Deutschland auf? Warum hat NRW Bayern als unsympathischstes Bundesland abgelöst, was ist aus dem alten Ruhrpott-Charme geworden? Warum haben die Deutschen am Anfang der Krise auf Balkonen geklatscht und Regenbogen in die Fenster geklebt, und jetzt, wo es besser wird, klicken sie auf Ken-Jebsen-Videos? Warum ist die Königsstraße auf, aber die Grenze immer noch dicht? Warum spuckt die Infektionsstatistik für Großbritannien gestern keinen Wert aus, war das Fax kaputt? Wieso ging mein Sabbatical so grausam schief? Will mir einen höhere Macht sagen, dass ich meinen Platz im Hamsterrad nicht zu verlassen habe? Warum müssen die Kellner im Café A Masken tragen, in Café B offensichtlich nicht?
Fragen. Wozu überhaupt. Hinnehmen wäre schmerzfreier.
Eventuell setzt sich der Trend der letzten paar Jahre, als Teil des Rechtsstaat gegen das geltende Recht mit einem Schulterzucken zu verstoßen, jetzt ja bis nach unten fort. Wenn Alexander Bellen in Österreich bis weit über die Sperrstunde hinaus in der Wirtschaft hocken bleibt, wenn dieser Kumpel von Boris Johnson mit Coronainfektion ausgedehnte Englandreisen unternimmt, wenn Christian Lindner weißrussische Diktatorenfreunde vor Luxusrestaurants ohne Maske umarmt, wenn das Luftfahrtbundesamt anstatt EU-Fluggastrechte durchzusetzen lieber auf Kommunikationsverbote für Mitarbeiter setzt, wenn der Baden-Württembergische Datenschutzbeauftragte vor vier Wochen schreibt, man würde Office 365 gerade prüfen, aber danach nie wieder etwas unternimmt, dann finde ich die Schlussfolgerung, dass ich mich als einfacher Bürger auch an den ganzen Scheiß nicht mehr halten muss, leider naheliegend.
Fische stinken immer vom Kopf her und die Welt fühlt sich gerade ein wenig an wie eine vergessene Kiste voll Beifang.
Gar nicht stinken tun ein paar Stunden später meine ersten in der Wirtschaft bestellten Kässpätzle seit dem Lockdown, es fehlt nur ein wenig Salz, aber hey: draußen, an einem Gasthaus-Tisch sitzen, in den Abend blicken, neues Bier bestellen, Passierenden hinterher schauen – wie ist das schön. Was habe ich das vermisst. So, dass ich das mit den Bieren gleich ein wenig übertreibe, und dann gibt diese Kellnerin, die jemand am Tisch vom Studium her bekannt ist, auch noch Schnäpse aus. Danach war ich wohl ziemlich lustig.
Na, wenigstens das mal wieder. Ansonsten ist nämlich meine Grundstimmung nach wie vor eher gedrückt und vom Gefühl des Verlustes geprägt. Die kostbar und hart angesparte Zeit, sie rinnt mir unwiederbringlich durch die Finger, und das macht mich fertig. Wenn es gut läuft, schaffe ich es mich abzulenken, zum Beispiel mit dem Bau eines neuen Gamingrechners. Aber immer dann im Leben, wenn ich gegen Dinge machtlos bin, werde ich wütend und frustriert, und gerade kann ich halt mit allen Mitteln, die mir so einfallen, wenig an der mauen Lage ändern. Und daran, dass sich für mich Deutschland wie ein Gefängnis anfühlt, obwohl es natürlich keins ist.
Ich neige überhaupt nicht zu depressiven Stimmungen, aber ich war ihnen nie näher.
Überhaupt: erinnert ihr euch noch? Erinnert ihr euch noch, als auf Twitter pro Tag sieben symbolische Solidaritätsaktionen auf Balkonen organisiert wurden? Wie drei mal in der Woche im Briefkasten ein Zettel von jemand lag, der für einen Einkaufen gehen wolle, im Fall dass man alt und alleinstehend sei? Als wir im Supermarkt beängstigt auf leere Nudel- und Klorollenregale starrten? Als Politik und Föderalismus aus purer Ernstheit der Lage sich einigermaßen einig waren? Als sie kurz auf Wissenschaftler hörten? Als man ständig mit Leuten skypte? Als man in den Wald zum Spazieren ging, weil man Angst vor einem Lockdown wie in Italien hatte? Als einem die Leere, und nicht die Vollgepacktheit der Einkaufsstraßen unwirklich vorkam? Als alle Promis tägliche You-Tube-Features online stellten? Kommt einem lange her vor, oder?
Jetzt ist fast alles wieder beim Alten, was auch vor der Krise schon richtig schlecht war: Die EU hat wenig Relevanz, asoziale Konservative machen nationale Politik gegen das Gemeinschaftswohl, sowohl Kultur als auch Bildung haben Prio 798 auf der Liste (Fußball Prio 2) und fette Diesel-SUVs bleiben das, was halbautomatische Sturmgewehre in den USA sind: eine gefährliche Religion, der aber alle wichtigen Leute anhängen. Über dem Ganzen schwebt das Damoklesschwert der zweiten Welle, an die viele nicht mehr glauben, die aber wohl verheerend wäre, wenn sie käme. Ob sich die Politik ein zweites Mal gegen die Forderungen der Wirtschaft, alles aufzulassen, stemmen könnte? Weg mit diesen finsteren Szenarien, sehen wir die positive Seiten der Dinge: ich habe wieder einen Haarschnitt, einen neuen Gamingrechner und ich war mal wieder Essen.
Klinge ich etwa bitter?