20.08.1945 – 18.08.2020

Auf dieser Seite ist es in den letzten Tagen still geworden, und das hatte seine Gründe.

Der Anruf trifft dich wie ein Ziegelstein, obwohl du lange Zeit hattest, dich auf ihn vorzubereiten. Du kannst dich aber gar nicht vorbereiten. Du verstehst, was passiert ist, du sagst zu, so schnell wie möglich zu kommen, du beginnst eine Tasche zu packen. Wahllos ziehst du schwarze Kleidung aus dem Schrank. Du fragst dich dabei, warum du nicht weinst, du hast sogar die Sorge, dass du nicht weinen könntest. Dein Blick fällt auf das schwarze Hemd in deiner Hand. Dann flüsterst du zwei Silben.

Papa.

Der Damm bricht nicht, er explodiert. Du weinst, weinst, weinst, und stehst doch irgendwie neben dir, beobachtest dich mit einem Teil deiner Seele von Außen, wie Bäche aus deinen roten Augen laufen, dein Mund sich verzerrt, schluchzt, wimmert. Der andere Teil deiner Seele ist pure Verzweiflung.

Du fährst wie auf Autopilot nach Ulm, Ampeln bleiben quälend lange rot, LKWs überholen sich gegenseitig mit kaum noch messbaren Geschwindigkeitsunterschieden. Du hastest zur Klinik, die Corona-Schleuse ist schon informiert und lässt dich ohne große Formalitäten passieren. Du betrittst ein weißes, stilles Zimmer, siehst deine weinende Familie und dann ihn, im Bett, klein, gelb, still.

Papa.

Mein Vater, Roland Vetter, war noch ein Fast-Kriegs-Kind. In den späten 40ern verbringt er eine Landkindheit, zunächst in Oberjessingen, dann in Merklingen auf der schwäbischen Alb. Immer wieder wird er den charakteristischen Zwiebelkirchturm des Dorfes in seinen späteren Jahren fotografieren. Der kleine Roland ist als Kind oft krank. Erst spät, als junger Mann, wird bei ihm chronisches Asthma-Bronchiale diagnostiziert.

Anfang der 50er-Jahre zieht die Familie nach Ulm, der Vater Karl arbeitet als Lagerist und Verwalter in einer Firma in der Blaubeurer Straße. Schulisch läuft es mittelmäßig, „Roland könnte aufmerksamer sein“ steht auf einem seiner Grundschul-Zeugnisse. Ihn zieht es lieber hinaus auf Zeltlager und Freizeiten. Mit der evangelischen Jugendarbeit findet er in der Jungengruppe die Freiheit, die man an einer Ulmer Ausfallstraße mit den sich wieder entwickelnden Industrieanlagen lange suchen muss. Ein Versuch, sich nach der Volksschule auf der höheren Handelsschule weiterzuqualifizieren, scheitert und endet in Nichtversetzung. Roland beginnt eine Lehre.

Wenn man einen Menschen sein ganzes, schon einigermaßen langes Leben kannte, dann ist sein Verlust schwer vorstellbar. Auch jetzt, beim Schreiben, fällt es mir noch immer schwer zu akzeptieren, dass er nicht mehr auf seinem Sofa sitzt, der Mama die Spülmaschine ausräumt, Einkaufszettel schreibt. Man muss sich an seinen Vater nicht gewöhnen, er ist von Anfang an da und wichtig.

Vielleicht kann man sich deshalb nicht entwöhnen.

Roland wird Fernmeldetechniker und beginnt damit eine niedere Beamtenkarriere bei einer Institution, die heute alle als „Telekom“ kennen. Damals heißt sie aber noch „Fernmeldeamt“, ist Teil der Post und damit eine Bundesbehörde. Das Fernmeldeamt war ein seriöses Amt zur Sicherung von Infrastruktur, die nachfolgende Telekom ist ein windiger Internetanbieter mit pinken Werbeeinspielern. Roland erweist sich als ziemlich bodenständiger aber sehr zuverlässiger Techniker und Verwalter. Er wird im Lauf seiner Berufskarriere bis zum Fernmeldehauptinspektor aufsteigen, für jemand mit einer Lehre eine ziemliche Karriere, auch wenn der lange Titel nie ein hohes Familieneinkommen mit sich brachte. Wir kamen aus.

Meine Mutter lernt er im Turm der Paul-Gerhard-Kirche kennen, wo die Jugendgruppen Räume haben. 1971 heiraten sie, 1973 komme ich und die junge Familie zieht in ein nagelneues Mietshaus in Ulm-Wiblingen, eine Hochhaussiedlung auf dem städteplanerisch neuesten Stand. Drei Jahre später zieht mein Bruder per Geburt nach. Die Wohnung, in der meine frühesten Erinnerungen stattfinden, wird er bis zum Schluss bewohnen.

Wenn ich an meinen Vater denke, dann sehe ich Farben. Er liebte die Farbenpracht, vielleicht weil eine Jugend in den 40er und 50er-Jahren gerne zum trüben Grau neigt. Mein Vater trug bunte Hemden, lindgrüne Hosen und senfgelbe Westen. Wenn er fotografierte – und er fotografierte und filmte über lange Zeit ziemlich viel und ganz gut – dann oft Blumenmeere, Himmel, bunt lackierte Haustüren, eine Welt der Farben. In seinen Fotos erweist sich der technische Fernmelder als Ästhet. Am Ende, als schon nicht mehr viel geht, arbeitet er ganze Erwachsenen-Malbücher und Faber-Kastell-Kästen im Eiltempo durch, Stunde um Stunde füllt er filigrane Linien mit leuchtenden Farben aus.

Mit 55 wird man ihn wegen seiner Gesundheit früh verrenten. Das Asthma-Bronchiale wird zu spät therapiert und verschlechtert seine körperliche Leistungsfähigkeit zunehmend. Dennoch ist er beruflich eher ein Opfer der Privatisierungsideologen nach 1990, für die „Personalabbau“ eine Art Wunderkur für Unternehmen ist. Auf einer seiner letzten Beurteilungen steht unter „körperlicher Leistungsfähigkeit“ ein „ausreichend.“ Unter allen anderen Bewertungskategorien schreibt sein Vorgesetzter „tritt hervor.“ Er war ein fantastischer Telefonkabel-Verwalter, mein Vater wusste bis zuletzt, wo in Ulm die Leitungen unter der Erde liegen. Aber er bekommt einen einigermaßen akzeptablen Pensionsdeal angeboten und schlägt zu. Die neue „Firma“ war ihm ohnehin im Vergleich zum alten Amt höchst unsympathisch.

Mein Vater starb in Ultra-Zeitlupe, jahrelang.

Die gesundheitlichen Probleme schritten langsam aber immer voran. Seit über 15 Jahren lebte er mit Sauerstoffzufuhr in immer höheren Dosen. Zunehmend blieb ihm bei Alltagsdingen „die Luft weg“, lange Pausen auf Treppen und Wegen, seine Welt wurde kleiner. Selbst Fotografieren wird in den letzten Jahren zu anstrengend, denn dazu muss man Motive suchen. Das Sofa im Wohnzimmer bleibt sein Platz. Hinzu kommen Herzprobleme und eine Altersleukämie sowie 500 andere Kleinigkeiten und Folgeerkrankungen. Auf manchen Untersuchungsberichten reicht der Platz zur Nennung der Diagnosen kaum aus. Mein Vater war zäh, bewundernswert zäh. Er überlebt einen Herzinfarkt und zwei Krankenhausaufenthalte. Erst die dritte Einlieferung gibt ihm den Rest. Viele hätten nicht geglaubt, dass er mit seinen Krankheiten so lange lebt.

Seit vier Tagen lassen wir durch offene Fenster Sauerstoff aus seinen beiden Großkanistern. Der Gaslieferant darf die Druckbehälter aus Sicherheitsgründen nicht befüllt abholen, er darf sie aber befüllt liefern. Verrückt. Und nun zischt, als beschissene technische Metapher auf das Sterben meines Vaters, seit vier Tagen sein Lebenssaft aus einer versilberten Tonne in die Außenluft.

Am Ende geht es schnell. Zu allen Problemen kommt ein äußerst aggressiver Lungentumor, meine Mutter merkt es als erste, sie sagt am Telefon: Du kannst zusehen wie der Papa weniger wird. Im Krankenhaus ist er nur 9 Tage. Eine Therapie ist bei seinem Allgemeinzustand nicht möglich. Drei Tage vor seinem Tod halluziniert er stark aufgrund des Sauerstoffmangels. Am nächsten Tag erhalte ich, außerhalb der Corona-Regeln, die nur eine Besuchsperson pro Patient erlaubt, eine Erlaubnis, ihn zu sehen. Da wird klar, dass die Klinik von seinem baldigen Tod ausgeht. Er ist dankenswerter Weise klar. Er sieht furchtbar aus, aber er erkennt mich und weiß fast alles. Er kann nichts zu sich nehmen, selbst Wasser erbricht er sofort wieder. Aber er freut sich, dass ich da bin.

Wir waren uns sehr ähnlich. Körperbau, Charakter, manchmal verstanden wir uns mit einem Blick. Am Ende können wir noch einmal miteinander Grinsen. Er findet keine rechte Lage, in der er gut Luft bekommt, weil es dafür keine Lage mehr gibt. Er hängt dann etwas verkrampft an diesem Dreieck im Pflegebett, und ich frage ihn auf schwäbisch, ob er das jetzt so bequem finde. Er grinst mich an und sagt „Noi.“

Für diesen Moment bin ich sehr dankbar.

Pläne, ihn zum Sterben nach Hause zu holen, kommen nicht mehr aus Ansätzen heraus. Er hört am 18. August um 15.30 Uhr, zwei Tage vor seinem 75. Geburtstag, auf zu atmen. Es scheint am Ende, als hätte er auf meine Mutter gewartet, die zur Besuchszeit das Zimmer betritt. Wach wird er nicht mehr, aber er stellt das für ihn qualvolle Luftholen kurz nach ihrem Eintreffen ein.

Als wollte er sich verabschieden, als wollte er sich nicht davon schleichen, ohne Bescheid zu sagen. Meinem Vater war seine Familie immer wichtig, offensichtlich bis in die Bewusstlosigkeit hinein.

Aus dem Sterbezimmer zu gehen, ihn da im Bett liegen zu lassen, damit ihn irgendjemand in einen dunklen Kühlschrank legt, war furchtbar. Die Welt ist ein sehr düsterer, beschissener Ort geworden. Es fehlt oft an Kraft und es gäbe so viele Dinge zu organisieren. Es bleibt eine unendliche Dankbarkeit dafür, was dieser Mann alles für mich in seinem Leben getan hat.

Ich vermisse ihn unendlich.

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4 Kommentare

  1. Mir tut Dein Verlust von Herzen leid und ich möchte Dir und deiner Familie mein tief empfundenes Beileid aussprechen. Dieser Artikel ist wohl das Schönste und Einfühlsamste, dass Du deinem Vater auf seine Reise mitgeben konntest.
    Ich hoffe sehr, das hier aufzuschreiben hat auch Dir ein wenig in deinem Trauerprozess geholfen.
    Herzliche Grüße
    Birgit

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    1. Es half tatsächlich ein wenig. Ich möchte auch auf diesem Weg allen Leuten danken, die mir mitfühlende und tröstende Nachrichten auf das Handy geschickt haben, und die ich nie beantwortet habe, Gelesen habe ich sie alle und sie taten gut.

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