Die vier Männer mussten den Lastwagen, einen ausgemusterten Berliet der Landstreitkräfte, an der Kreuzung stehenlassen. Nur noch ein paar traurige Ziegelhaufen und Kellerlöcher zeugten von dem einstmals stattlichen Chateau mit den Spitztürmchen, das der Kreuzung den Namen noch immer den Namen gab. Hinter den Trümmern begannen die französischen Stellungen. Als sie durch den zerschossenen Wald den Aufstieg wagten, keuchend wegen der steilen Hänge, fing es leicht an zu regnen. Zwischen den Gräben und rostenden Drahtverhauen spross erstes neues Grün.
Sie waren eine Zweckgemeinschaft. Richard, der Beauftragte der Gemeinde, der Schlosser Mathieu, der kriegsversehrte Bernard und Monsieur Bonnaire aus Metz. Bernard hatte 1917 vor Sainte-Marie-aux-Mines im Trichterfeld einen Schuss in die Verse und einen in die Handwurzel bekommen. Monsieur Bonnaire war Schrotthändler und bereit der Gemeinde, im Gegenzug gegen die Übereignung aller Schrottwerte auf ihren Gemarkungen, einen kleinen Betrag zu überweisen.
Es war 1920. In den Argonnen waren Gemeindemittel knapp. Also stiegen Mathieu, Bernard und Richard gelegentlich zum Wohle der Allgemeinheit mit Monsieur Bonnaire in die geschändeten Berge und räumten die Landschaft auf, was alles andere als ein ungefährliches Unterfangen war.
Der Stacheldraht war das umfangreichste Relikt, das die Armeen hinterlassen haben, aber Stacheldraht war schwer einzusammeln und wog nicht viel. Er erforderte dicke Handschuhe und viel Kraft. Lukrativer waren Granaten. Eine ordentliche Granathülse wog zwischen 2 und 5 Kilo, größere auch wesentlich mehr, und war aus gutem Stahl gedreht.
Heute war die deutsche Linie an der Reihe. Die Männer atmeten etwas schwer im stärker werdenden Regen, auch der Veteran mit seinem kaputten Fuß hatte den Weg hinauf ganz gut bewältigt. Nun standen Sie vor der Deutschen Hauptkampflinie und blickten etwas ratlos über die Erdwälle und rostigen Barrieren. Richard versuchte konstruktiv zu sein, und schlug vor, auf einem langen Verteidigungswall zu ihrer Linken alles aufzuschichten, was für Bonnaire von Interesse war.
Also sortierten sie das Schlachtfeld.
Eine gute Anzahl leicht zu bergender Eisenstangen zur Drahtverankerung , sogenannte „Schweineschwänze“, bildeten innerhalb einer Stunde die Grundlage eines Stapels, unverbaute Stacheldrahtrollen fügten sich daneben gut ins Konzept. Dann entdeckte Mathieu die zurückgelassene Munition.
Als er die Fläche mit hunderten herumliegenden Granaten sah, pfiff er leicht durch die Zähne. Bernard wurde dadurch auf den Fund aufmerksam. „Wenigstens haben sie ihre Kanonen mitgenommen“, knurrte er zwischen seiner Pfeife hervor. „Oder bedauerlicherweise“, ergänzte Bonnaire, „ein Geschütz ist ein schönes Stück Eisen.“ Auch Richard stieß hinzu, einen bereits rostenden spanischen Reiter hinter sich herziehend. „So viele mit Zündern – das ist schon ein bisschen gefährlich“, gab er zu bedenken. Bernard schnaubte etwas abschätzig und schnappte sich eine der vielen 8 cm Granaten. Er begann an der Kappe zu drehen, was die anderen drei mit einem vorsichtigen Schritt zurück quitierten, als würde der dadurch gewonnene halbe Meter eine Art Schutz vor dem möglichen Explosionskegel bilden. „Hätten wir über Wisembach jedesmal das Räumkommando gerufen, wären wir in Blindgängern ertrunken.“ krächzte der Veteran in der Parodie eines harten Lachens. „Die Deutschen 8er sind kein Problem, meine Freunde.“ Mir diesen Worten hielt er schon den Zündkopf in der rechten Hand und schüttelte mit der durchlöcherten Linken den Sprengstoff aus der Hülse auf die nackte Erde. „So geht’s.“
Mathieu brachte in Folge die 8er zu Bernard, der aus Geschossen Stahlhülsen produzierte; Etwa jede sechste legte der Veteran nach flüchtigem Blick zur Seite – warum erklärte er nicht näher und die anderen fragten nicht, aus welchem Grund er bestimmte Geschosse lieber nicht mit jenem schnellen Handgriff entschärfte. Auch die größeren 15er ließ er unangetastet liegen. Besonders vorsichtig trugen die Männer ein halbes Dutzend gewaltige französische Flügelminen auf den Wall. Offensichtlich hatten die Minenwerfer unten im Tal oder die Fabriken hinter der Front schlecht gearbeitet, so dass die Deutschen eine kleine Sammlung unexplodierter französischer Mörsergeschosse angelegt hatten. Vive la France. Auch von ihnen ließ man lieber die Finger.
Als der Spätnachmittag zwischen den zersplitterten Baumstämmen das Grau der Dämmerung erahnen ließ, blickten die vier auf eine lange Reihe aufgestapelter Metallgegenstände auf dem Wall. Dort reihte sich Hülse an Hülse, Blech an Blech, Stange an Stange. Die scharfen Geschosse hatten sie obenauf gelegt, bereit für die Profis der Bombenräumkommandos.
„Morgen tragen wir den ganzen Plunder zur Straße“, plante Richard das Weitere. Dann gingen sie, um nie wiederzukehren.
So hätte es sein können.
Oder es war ganz anders. Das obige ist reine, historisch-unakurate Fantasie aus meinem Kopf.
Der unbedarfte Reisende mag sich wundern, warum eine gottverlassene T-Kreuzung in den Argonnen einen eigenen Namen trägt. Tatsächlich erinnert nichts mehr an das Schlösschen aus dem 19. Jahrhundert, das einstmals „Four de Paris“ hieß und in vier Jahren Krieg völlig zusammengeschossen wurde. Wer aus Varennes-en Argonne kommend die D38 entlang fährt, stößt automatisch auf diese Stelle, wo sich die D2 und die D67 gabeln, nördlich nach la Harazée mit seinem großen Soldatenfriedhof führend, südlich nach La Chalade, wo ein Zisterzienser-Kloster aus dem 12. Jhdt. fast das selbe Schicksal erfahren hätte wie das flachgebombte Schlösschen an der Kreuzung.
Die Gegend ist einsam und nahezu zu jeder Jahreszeit verlassen. In den Wäldern schlummert der Tod. Wer es wagt die Anhöhen zu ersteigen (das Betreten des Waldes ist übrigens meistens verboten), der mag auf jenen seltsamen Schrottplatz stoßen, der seit mindestens 90 Jahren einigermaßen durchsortiert vor sich hin rostet. Er braucht aber einen leichten Tritt und aufmerksame Sinne.
Es ist ein unheimlicher Ort, der erklärungsbedürftig wirkt.