Die Sortierung des Schlachtfeldes

Die vier Männer mussten den Lastwagen, einen ausgemusterten Berliet der Landstreitkräfte, an der Kreuzung stehenlassen. Nur noch ein paar traurige Ziegelhaufen und Kellerlöcher zeugten von dem einstmals stattlichen Chateau mit den Spitztürmchen, das der Kreuzung den Namen noch immer den Namen gab. Hinter den Trümmern begannen die französischen Stellungen. Als sie durch den zerschossenen Wald den Aufstieg wagten, keuchend wegen der steilen Hänge, fing es leicht an zu regnen. Zwischen den Gräben und rostenden Drahtverhauen spross erstes neues Grün.

Sie waren eine Zweckgemeinschaft. Richard, der Beauftragte der Gemeinde, der Schlosser Mathieu, der kriegsversehrte Bernard und Monsieur Bonnaire aus Metz. Bernard hatte 1917 vor Sainte-Marie-aux-Mines im Trichterfeld einen Schuss in die Verse und einen in die Handwurzel bekommen. Monsieur Bonnaire war Schrotthändler und bereit der Gemeinde, im Gegenzug gegen die Übereignung aller Schrottwerte auf ihren Gemarkungen, einen kleinen Betrag zu überweisen.

Es war 1920. In den Argonnen waren Gemeindemittel knapp. Also stiegen Mathieu, Bernard und Richard gelegentlich zum Wohle der Allgemeinheit mit Monsieur Bonnaire in die geschändeten Berge und räumten die Landschaft auf, was alles andere als ein ungefährliches Unterfangen war.

Der Stacheldraht war das umfangreichste Relikt, das die Armeen hinterlassen haben, aber Stacheldraht war schwer einzusammeln und wog nicht viel. Er erforderte dicke Handschuhe und viel Kraft. Lukrativer waren Granaten. Eine ordentliche Granathülse wog zwischen 2 und 5 Kilo, größere auch wesentlich mehr, und war aus gutem Stahl gedreht.

Heute war die deutsche Linie an der Reihe. Die Männer atmeten etwas schwer im stärker werdenden Regen, auch der Veteran mit seinem kaputten Fuß hatte den Weg hinauf ganz gut bewältigt. Nun standen Sie vor der Deutschen Hauptkampflinie und blickten etwas ratlos über die Erdwälle und rostigen Barrieren. Richard versuchte konstruktiv zu sein, und schlug vor, auf einem langen Verteidigungswall zu ihrer Linken alles aufzuschichten, was für Bonnaire von Interesse war.

Also sortierten sie das Schlachtfeld.

Eine gute Anzahl leicht zu bergender Eisenstangen zur Drahtverankerung , sogenannte „Schweineschwänze“, bildeten innerhalb einer Stunde die Grundlage eines Stapels, unverbaute Stacheldrahtrollen fügten sich daneben gut ins Konzept. Dann entdeckte Mathieu die zurückgelassene Munition.

Als er die Fläche mit hunderten herumliegenden Granaten sah, pfiff er leicht durch die Zähne. Bernard wurde dadurch auf den Fund aufmerksam. „Wenigstens haben sie ihre Kanonen mitgenommen“, knurrte er zwischen seiner Pfeife hervor. „Oder bedauerlicherweise“, ergänzte Bonnaire, „ein Geschütz ist ein schönes Stück Eisen.“ Auch Richard stieß hinzu, einen bereits rostenden spanischen Reiter hinter sich herziehend. „So viele mit Zündern – das ist schon ein bisschen gefährlich“, gab er zu bedenken. Bernard schnaubte etwas abschätzig und schnappte sich eine der vielen 8 cm Granaten. Er begann an der Kappe zu drehen, was die anderen drei mit einem vorsichtigen Schritt zurück quitierten, als würde der dadurch gewonnene halbe Meter eine Art Schutz vor dem möglichen Explosionskegel bilden. „Hätten wir über Wisembach jedesmal das Räumkommando gerufen, wären wir in Blindgängern ertrunken.“ krächzte der Veteran in der Parodie eines harten Lachens. „Die Deutschen 8er sind kein Problem, meine Freunde.“ Mir diesen Worten hielt er schon den Zündkopf in der rechten Hand und schüttelte mit der durchlöcherten Linken den Sprengstoff aus der Hülse auf die nackte Erde. „So geht’s.“

Mathieu brachte in Folge die 8er zu Bernard, der aus Geschossen Stahlhülsen produzierte; Etwa jede sechste legte der Veteran nach flüchtigem Blick zur Seite – warum erklärte er nicht näher und die anderen fragten nicht, aus welchem Grund er bestimmte Geschosse lieber nicht mit jenem schnellen Handgriff entschärfte. Auch die größeren 15er ließ er unangetastet liegen. Besonders vorsichtig trugen die Männer ein halbes Dutzend gewaltige französische Flügelminen auf den Wall. Offensichtlich hatten die Minenwerfer unten im Tal oder die Fabriken hinter der Front schlecht gearbeitet, so dass die Deutschen eine kleine Sammlung unexplodierter französischer Mörsergeschosse angelegt hatten. Vive la France. Auch von ihnen ließ man lieber die Finger.

Als der Spätnachmittag zwischen den zersplitterten Baumstämmen das Grau der Dämmerung erahnen ließ, blickten die vier auf eine lange Reihe aufgestapelter Metallgegenstände auf dem Wall. Dort reihte sich Hülse an Hülse, Blech an Blech, Stange an Stange. Die scharfen Geschosse hatten sie obenauf gelegt, bereit für die Profis der Bombenräumkommandos.

„Morgen tragen wir den ganzen Plunder zur Straße“, plante Richard das Weitere. Dann gingen sie, um nie wiederzukehren.

So hätte es sein können.

Oder es war ganz anders. Das obige ist reine, historisch-unakurate Fantasie aus meinem Kopf.

Der unbedarfte Reisende mag sich wundern, warum eine gottverlassene T-Kreuzung in den Argonnen einen eigenen Namen trägt. Tatsächlich erinnert nichts mehr an das Schlösschen aus dem 19. Jahrhundert, das einstmals „Four de Paris“ hieß und in vier Jahren Krieg völlig zusammengeschossen wurde. Wer aus Varennes-en Argonne kommend die D38 entlang fährt, stößt automatisch auf diese Stelle, wo sich die D2 und die D67 gabeln, nördlich nach la Harazée mit seinem großen Soldatenfriedhof führend, südlich nach La Chalade, wo ein Zisterzienser-Kloster aus dem 12. Jhdt. fast das selbe Schicksal erfahren hätte wie das flachgebombte Schlösschen an der Kreuzung.

Die Gegend ist einsam und nahezu zu jeder Jahreszeit verlassen. In den Wäldern schlummert der Tod. Wer es wagt die Anhöhen zu ersteigen (das Betreten des Waldes ist übrigens meistens verboten), der mag auf jenen seltsamen Schrottplatz stoßen, der seit mindestens 90 Jahren einigermaßen durchsortiert vor sich hin rostet. Er braucht aber einen leichten Tritt und aufmerksame Sinne.

Es ist ein unheimlicher Ort, der erklärungsbedürftig wirkt.

Zurück vom Nerdpol

Mir tut eigentlich fast jeder Muskel weh. Kein Wunder bei all der Schlepperei. Meine Augen sind etwas zugeschwollen, eventuell von den Kontaktlinsen, die ich vier Tage lang jeden Morgen hineingepopelt habe, eventuell auch von dem einsetzenden Heuschnupfen-Backlash, der mir wohl sagen will, dass nach einer Woche Wiese ein wenig Pollenfest in meinen Rezeptoren passiert. Das würde jedenfalls zu meiner Triefnase passen. Sonnenbrand habe ich nur wenig, etwas auf der Nase, ich sehe trotzdem ein bisschen aus wie eine Scheibe Kassler mit Kinnbart. Auch größere Verletzungen habe ich mir diesmal erspart, keine Fingerkuppe beim Holz spalten abgehackt und auch kein Knie beim Sturz über einen Zelthering verdreht, weil einen ein Chaoswesen mit Tentakeln anspringt. (Alles schon passiert, kein Scheiß). Insgesamt geht es mir nach einer Nacht in einem echten, wirklichen, richtigen Bett ziemlich gut, nur mein Wohnzimmer sieht aus, als wollte ich ausziehen. Überall stehen Kisten und Kästen herum. Dieser Kofferraum voll Krempel muss noch in den nächsten Tagen auf den Dachboden gewuchtet werden, das heißt, nachdem die müffeligen, von Schweiß und Regen feuchten Wollklamotten gewaschen sind, natürlich von Hand. Momentan riecht es ein wenig in meinem Wohnzimmer.

Warum tue ich mir das jedes Jahr an? Warum lebe ich jedes Jahr einer Woche auf einer verdammten Wiese, nächtige auf einem knarzigen Feldbett neben einem schnarchenden „Stiftsknappen“, eine Art behämmerter Klosterritter, esse aus einer Holzschüssel, hüpfe über eine kaninchenlöcherübersähte saarländische Heide, und dabei noch in einer Art knöchellangen Kleid, darüber ein Federbarrett, darunter etwas, das man nüchtern nur als Wollstrümpfe, die an eine gelbliche Boxershort gestrapst wurden, bezeichnen kann.

LARP (für alle Normalos hier: das steht für Live Action Role Play) ist ein Hobby, das nur schwer vermittelbar ist. Seit über 10 Jahren versuche ich einmal im Jahr in eine andere Rolle abzutauchen, erfinde Balthasar, den Stiftsschreiber, der mein Gesicht trägt oder ich seine Persönlichkeit, ganz wie man das sehen will. Treffe Leute, die ich seit über 10 Jahren kenne und Freunde nenne, die ich einmal im Jahr für eine Woche sehe, die aber dann in der Mitte der Woche ebenfalls ihre Persönlichkeit wandeln, und irgend einen beknackten Typen mit Helm und Leinenunterwäsche verkörpern. Davor zersägen wir gemeinsam Unmengen von Balken und schrauben und spaxen aus Baumarktelementen etwas über die Kaninchenlöcher, was einer mittelalterlichen Wehranlage nahekommen soll. Wir ignorieren OSB-Platten-Innenwände, vorbeiziehende saarländische Joggerinnen und alle Widrigkeiten, spielen als erwachsene Menschen Krieg und Kämpfchen, als wäre man ein zwölfjähriges Kind. Im Gegensatz zum Heranwachsenden vertilgen wir aber dabei noch eine ganz erhebliche Menge Alkohol.

Warum tut Mann sich das an?

Nicht zu verschweigen auch jede Menge Frauen, die diesem teuren, aufwändigen und für den 0815-Bundesbürger vermutlich hochgradig kindischem Hobby frönen.

Für mich ist es hauptsächlich das Abtauchen in eine imaginierte Welt, die dann plötzlich nicht mehr nur spielerische Fantasie bleibt, sondern realer existiert, als alle meine anderen Spielwelten, die ich um mich versammelt habe. Natürlich mache ich Kleine-Jungen-Träume wahr. Da muss man sich nix vormachen, heute, mit 46 Jahren, bin ich endlich erwachsen und wohlhabend genug, um tatsächlich in einer Schlacht mit einer Waffe auf Gegner einzudreschen, durch den Wald zu schleichen ,auf dass mich das böse Monster nicht entdeckt, oder den vergrabenen magischen Schatz zu finden. Im Grunde ist es genau das, auch wenn wir Larper diese Elemente „Langwehr“, „Ork“ oder „heilige Reliquie“ nennen, vielleicht um uns weniger albern vorzukommen, aber im Grunde bleibt es die Waffe, das Monster, der Schatz im Wald.

Dieses Abenteuer ist nun für mich endlich für ein paar Tage im Jahr erlebbar. Ich glaube, damit kann ich etwas verwirklichen, was für die Millionen Leute hier, die „normalen“ Hobbies frönen (Fußballverein, Plastikhubschrauber zusammenkleben, Schlümpfe sammeln, Keyboard spielen) im Reich der Fantasie bleiben muss, so sie denn wirklich welche haben.

Ich entgrenze mich übrigens in dieser Woche grundsätzlich von meiner seriösen Existenz.

Das tut gut, das reinigt das eigene Identitätskonstrukt, ich rülpse beim Biertrinken, furze auf dem Weg zum Duschcontainer laut und mit innerlichem Vergnügen und mache Witze auf einem Niveau, das meine Mitmenschen und vor allem meine Schüler niemals erleben dürften. Aber man muss sich auch so etwas offen eingestehen. Es geht aber nicht im Kern um das Leben abseits der üblich geltenden Benimmregeln. Es geht im Larp für mich um Kreativität.

Der Moment, in dem du beim Blick nach unten feststellst, das irgendwas mit dir nicht stimmt …

Auf dem Spielplatz des Kinderabenteuer wird unsere Kreativität ununterbrochen gefordert und gefördert. Alleine das ständige Improvisieren seiner Rolle macht es notwendig, sich in einem ununterbrochenen Schöpfungsprozess zu befinden, der natürlich auch scheitern kann; Ich spiele einen Schreiber und erfinde Texte; andere betreiben Geschäfte oder sind als Schausteller aktiv, wie die diesjährigen grandiosen Puppentheater (es gab zwei!) auf dem „Epic Empires“, ja so bescheuert heißen LARP-Veranstaltungen tatsächlich, meistens so ähnlich wie Heavy-Metal-Alben aus den späten 80ern. Um es kurz zu machen: Die kreative Energie einer Larp-Veranstaltung klatscht einem regelrecht sekündlich ins Gesicht.

Ich kennen keinen Haufen von Menschen, der so schöpferisch ist, wie eine Gruppe Larper. Wir mögen Akademiker*innen, Handwerker*innen, IT-ler*innen oder Arbeitslose sein, wir sind ganz junge Student*innen oder alte Säcke/Ziegen mit ergrauendem Haar. Wir kommen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich, aber auch aus Großbritannien, Spanien, Italien oder Polen zusammen. Wir reden Schwäbisch oder Platt, Kölsch oder Schwyzerdeutsch, Thüringisch oder Pott. Wir sind fett oder mager, winzig oder 2 Meter 10. Wir spielen am liebsten Mittelaltermenschen oder böse Chaoskultist*innen, Keltische Priester*innen oder wunderschöne Elfen, schrullige Magier oder britische Seeoffiziere. Die meisten von uns raufen gerne und saufen gerne. Wir haben diverse Sexualitäten und ein gemeinsames Hobby.

Wir sind Larper. Die durchgeknalltesten, friedlichsten und liebenswertesten Bappsäcke, die ich kenne.

Natürlich gibt es auch larpende Arschlöcher. Leute, die zu Ich-bezogen sind, um wirklich mit anderen zu spielen, Leute, die ihren Militarismus ausleben wollen, die latent aggressiv sind und nicht nur Aggression darstellen, Leute, die besoffen nicht in der Lage sind, die Mitte von einem Dixi-Klo zu treffen. Aber zumindest in dem Lager, in dem ich rumhänge, sind sie in der Minderzahl. Und die großartigen Menschen in der Mehrheit, endlich einmal auf diesem eigentlich schrecklichen arschloch-dominierten Planeten.

Vielleicht liegt es daran, dass wir vielen „Normalos“ immer noch suspekt sind, in dem was wir tun. Für jemand, für den der Gipfel der Verrücktheit darin liegt, auf dem Cannstatter Wasen auf der Bierbank zu tanzen, ist natürlich ein Mensch, der mit einer Gummihelebarde über einen alten Truppenübungsplatz rennt und dabei „Für die heilige Clara!“ brüllt, außerordentlich verdächtig, eventuell sogar unerwünscht. Es ist für uns in den letzten Jahren immer schwerer geworden, unsere Veranstaltung durchzuführen. Die Kleinststadt neben unserer Spielwiese hat mittlerweile eine Art politische Bewegung gegen Larper hervorgebracht, die sich im Kern auf Naturschutzargumente stützt. Auch die Berichterstattung in der Regionalpresse hat sich gedreht und stellt uns Spielende negativ dar. Das war in Deutschland nicht immer so. Es ist zum einen erfrischend mal als Mensch von der SPD und dem NaBu abgelehnt zu werden und nicht immer nur von den üblichen Verdächtigen: Rechtsradikale, intolerante Religiöse und osteuropäische Diktatoren mögen Leute wie mich nicht, das war man ja schon gewohnt. Aber der nationale Naturschutz und die deutsche Sozialdemokratie? Holla die Kleinstadtfee. In mir wächst und bleibt der Verdacht, dass wir in Wirklichkeit abgelehnt und beschnüffelt werden, weil wir anders leben, als die kleine Vorstadtsiedlung mit den akkuraten Rosenbeeten.

Schieben wir diese düstere Entwicklung beiseite, wir Spinner sind letztendlich nicht totzukriegen. Irgendwo wird sich immer eine Nische für die finden, die nicht nur träumen sondern auch Träume leben wollen. Und so lange ich das noch irgendwie konstitutionsmäßig packe, werde ich mich immer wieder auf einer feuchten Wiese in bunten Wollstrapsen finden.

„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

So Friedrich Schiller, der ein kluger Mann war.

Wir brauchen mehr Spieler auf dieser Welt und weniger akkurate Rosenbeete. Und deswegen betreibe ich das schönste Hobby der Welt, genau hier in Deutschland, am jährlichen Nerdpol.

Sail away, sail away, sail away

Es ist soweit: Die erste große Aktion in diesem einen Jahr raus zeichnet sich ab. Und ich muss sagen, dass es sich idealer gar nicht hätte ergeben können:

  1. Ich haue im kalten, ekelhaften deutschen Herbst einfach ab (25.10. – 17.11.)
  2. Ich sitze auf einem ziemlich großen und schönen Schiff (Bavaria 51 Cruiser)
  3. Ich segele Hochsee und auf Distanz von Nordspanien auf die Canaren.

Das sind Luftlinie knapp 2000 Kilometer von A Coruna bis Gran Canaria, drei Wochen Überführungssegeln in Dreierschichten, offshore über den Atlantik, mit maximal 5-6 Häfen. Also etwas ganz anderes als die bisherigen Urlaub-Badetörns.

Ein bisschen habe ich Respekt vor der Sache: Ich glaube, der Atlantik kann im November ganz schön rau werden. Und eine Deckwache ist tatsächlich dann eine verantwortungsvolle Tätigkeit, bei der man das Schiff erstens auf Kurs, zweitens über Wasser halten sollte. Und, ach ja: vermutlich gibt es über größere Strecken keinen Handyempfang.

Aber ey: Das ist Seefahrt, also hör auf zu heulen Alter. Genau so etwas wolltest du doch, zischt der graue Seebär in mir.

Also höre ich auf zu heulen und freue mich.

Manchmal habe ich direkt so was wie Glück Nur drei Tage dauerte es von einem relativ unbestimmten Mitsegel-Gesuch meinerseits in einem Online-Forum bis sich ein gewisser Hinrich meldete, und mich fragte, ob ich an Bord hüpfen will.

Natürlich will ich.

Zunächst aber verziehe ich mich eine Woche an den Nerdpol. Auf Deutsch: Ich haue mich ins Saarland, hülle mich in seltsame Gewänder, renne singend durch den Wald und patsche mit einer Latex-Helebarde ähnlich gesinnten Deppen in die Wampe.

Hört sich lustig an, ist es auch, nennt sich Liverollenspiel. Und um ehrlich zu sein, ist es dieses Jahr ein ganz wunderbarer Startpunkt: Nichts könnte vom windgepeitschten Herbstatlantik weiter weg sein als ein Augustnachmittag auf einem saarländischen Ex-Truppenübungsplatz mit 1000 Vollhonks in lustigen Rüstungen.

Mal sehen, vielleicht gebe ich hier nach meiner Rückkehr einen Bericht. Wie übersetze ich Nerdig in Standartsprache? Ach egal, die normale Welt wird es in keinem Fall verstehen.

Bis dahin schon mal Mast- und Schotbruch. Ich hoffe mein Glück hält. 🙂

Into the Wild

Ich packe meinen Koffer:

Zunächst brauche ich Futter, und zwar hitzebeständiges, für drei Tage, ein großes Vesper und mehrere kleine Snacks: Schüttelbrot, Babybells, Möhrensticks, Radieschen, Trockenobst, harte Eier; Brioche und Peanut-Bars, Müsliriegel, Nussmix in Tüte, Coladosen, eine Tafel Fair-Trade-Schokolade, Kaffeedrinks.

Zugegeben: Die Schokolade ist im August mutig.

Dann noch Wasser, viel Wasser.

Als Nächstes brauche ich Equipement: Kompass, Klappmesser, Leatherman, Wanderkarte, Internetausdruck von alten Stellungsplänen, Handschuhe, Mücken- und (wichtiger) Zeckenschutz, Regenponcho, Erste-Hilfe-Set, Stirnlampe, stabiles dornendichtes Käppi., Sonnencreme Lichtschutzfaktor 50

Meine Wanderschuhe sind so gut wie durch und werden nach diesem Trip wohl in den Müll wandern. Wenn der Gott des Querfeldein-Latschens gnädig mit mir ist, halten sie noch einmal drei Tage durch, ich laufe darin gut und bekomme keine Blasen.

Mein Koffer ist übrigens ein ziemlich großer Rucksack, der jetzt darüber hinaus ansehlich schwer geworden ist. Aber ohne entsprechende Ausrüstung wird es schwierig auf dem Schlachtfeld. Inzwischen packe ich meinen Exkursionsrucksack mit der Routine eines 60jährigen Bergführers.

Was zieht mich immer und immer wieder an die Westfront? Um keine Verwirrung aufkommen lassen, ich meine die von 1914-1918, nicht die von 1940/1944/1945. An ein paar Stellen ist das aber das selbe.

Meine Faszination für diesen breiten grünen Gürtel im Osten Frankreichs entwickelte ich schon während des Studiums, bei zwei Verdunexkursionen mit dem von uns fast väterlich verehrten Prof. Dr. Lothar Burchardt, „Burchi“ genannt. Da habe ich mich wohl mit dem Grabenfieber infiziert.

Und zum einen, da wollen wir uns nix vormachen, liegt die Faszination dieser Orte natürlich im guten alten Militarismus der männlichen Kartoffel, selbst wenn sie in diesem Fall Pazifist, Ex-Zivi und linker Weltverbesserer sein sollte. Wenn man aber noch einen Opa hatte, der Kriegsheldengeschichten zum besten gab, dann entkommt man als Typ aus meiner Generation dieser Seuche eigentlich nicht. Man kann ihr nur rational begegnen und ins hässliche Antlitz sehen.

Was stimmt bloß mit dem Jungen nicht?

Aber das greift als Erklärung zu kurz warum es mich immer und immer wieder in diese einsamen Wälder und Schluchten zieht. Das alte Schlachtfeld übt eine gewaltige Faszination aus. Weil es ein Nichtort ist, eine Zwischenwelt, in der zwei sonst unvereinbare Aggregatszustände nebeneinander gleichzeitig existieren und Zeitebenen sich gegen alle Regeln der Physik durchdringen: Menschgemachte, menschgeformte, menschverstümmelte Landschaft und unberührte, einsame Natur. Nie war ein Gebiet mehr „Kulturlandschaft“ als die Trichterödnis und die Grabenlabyrinthe es 1918 waren. Und wenige Ecken Europas wurden von besagter menschlicher „Kultur“ in der Folge so sehr in Frieden gelassen, wie dieser Kriegsschauplatz.

Die Westfront, von der niederländischen Küste bis an die Schweizer Grenze ist über weite Strecken ein gewaltiger Lost Place. Als am 11. November 1918 der letzte Schuss verklungen war, legte sich eine gigantische Stille über die Gräben und Stellungen, die bis heute nachklingt. Die Überlebenden, an Körper und Geist geschunden, kletterten aus ihren Unterständen und Erdfestungen, die sie vier Jahre lang bis zum Irrsinn ausgebaut hatten, und gingen einfach nach Hause. Das geografische Band des grausamsten Krieges bis dato war ein derartig zerstörter Ort, dass hier – anders als nach dem zweiten Weltkrieg – die Idee eines Wiederaufbaus der Gebiete quasi sofort verworfen wurde. Milliarden von Granaten hatten den Boden aufgerissen, zernarbt und selbst die Erdschicht an vielen Stellen bis auf den nackten Felsen pulverisiert. Millionen von Blindgängern übersähten die Landschaft und machten jede Bau- und Anbautätigkeit zu einer lebensgefährlichen Sache. Darüber hinaus vergifteten toxische Sprengstoffüberreste und Giftgasrückstände Boden und Trinkwasser. Und unzählige Kilometer Grabennetz machten die Fortbewegung in diesem Gebiet zur Schwerstarbeit. Man hatte genug damit zu tun, wenigstens liegen gelassene Waffen und Leichen aufzusammeln, für mehr war keine Kraft und keine Zeit, auch weil der Kriegsgegner und Verlierer Deutschland beim Thema Reparationen beständig laut herumheulte und darauf verwies, dass man für seinen Krieg, den man mit Milliardenaufwand bis zum Schluss geführt hatte, nach der Niederlage nun keine Millionen aufbringen könne (bis Hitler dann die Zahlungen für die unendlichen Schäden auf französischem Boden ganz einstellte).

Also überließ man die alte Front weitgehend sich selbst und der Natur. Man pflanzte Bäume auf die Narben, zumindest an vielen Stellen, und an anderen wuchsen sie wild. Gottseidank hält die Vergiftung und die Blindgängerbelastung der Wälder bis heute an, ohne dass Räumkommandos daran etwas Wesentliches ändern konnten. Gottseidank hielt dies das verheerendste Gift für die Schöpfung 100 Jahre ziemlich fern von diesen Ecken: Den Zweibeiner, den Menschen, moi.

Mit allem kann die Natur gut leben, nur mit uns offensichtlich nicht.

Wenn man heute durch diese Wälder geht, dann hat man majestätische Baumsäulenhallen um sich oder dichtestes wucherndes Grün, durch das man kaum durchkommt. Es vergeht kaum ein Tag auf dem Schlachtfeld, an dem man nicht Rehrudel aufschreckt oder Wildschweine davongallopieren sieht. Es ist ein Paradies auf der Hölle gewachsen. Gerade als ich diese Zeilen schreibe, hat mich vor ein paar Stunden eine gewaltige Eule, die plötzlich lautlos aus ihrem Baum vor meinem Nahen aufflog und höheres Terrain suchte, beinahe zu Tode erschreckt, als das wunderschöne Tier zwei Meter an mir vorbeischwebte. In Stuttgart habe ich so Erlebnisse nicht, da fährt einen höchstens ein Fahrradfahrer über den Haufen, eventuell vielleicht noch mit der selben mentalen Grundhaltung wie eine Minenwerferkompanie 1916. Zurück zu den einsamen, stillen Wäldern.

Eine solche Umgebung hat man sonst selten, eventuell noch in den großen süddeutschen Nationalparks. Was man da nicht hat, ist der Krieg. Der mindestens genau so präsent ist, wie das Naturparadies.

„Es gibt nichts Beständigeres, als ein ordentliches Loch“

Das habe ich von irgendeinem Archäologen aufgeschnappt, nagelt mich nicht darauf fest. Nach wie vor ist das Netz der Gräben unübersehbar, es ist mittlerweile sanfter, die Holzwände sind verrottet, die Gräben sind nun weicher geschwungen, aber stellenweise noch immer über zwei Meter tief, so dass man nicht daraus hervor blicken kann. Unübersehbar sind die Reste des grausamen, idiotischen Mordens um Kaiser oder Republik willen, allenthalben rostige Drahthindernisse, Spanische-Reiter-Spitzen, Wellbleche der traurigen Unterstände., in denen die bedauernswerten Opfer der Weltlage ausharrten. Unvermeidbar auch die explosiven Überreste, nur wenige Kilometer lege ich zurück, bei denen ich an keinen Granaten aller Kaliber oder anderen Kampfmitteln vorbeigehe. Bitte nicht berühren. Und dazwischen, und durchaus berührend, kleine Zeugnisse der Menschen, die hier vier Jahre lang gelitten haben und zum großen Teil auch gestorben sind: Sei es nun das häufigste persönliche Artefakt, die Weinflasche (ganz oder als Scherbe, Alkohol muss mit eine der wenigen Freuden gewesen sein, die einem an der Front noch blieben), die teilweise ganze Glashalden im Wald bildet. Gelegentliche Schuhsohlen von Armeestiefeln und herumliegende Rucksackriemen (Leder ist viel zäher und haltbarer, als ich immer dachte), löchrige Essgeschirre oder ganz kleine Dinge, wie der winzige weiße Porzellanknopf den ich auf dem cote du poivre bei Verdun auf dem Waldboden fand, der vor hundert Jahren typisch für Unterwäsche war, und der nun immer noch im Wald liegt. Welche traurige Geschichte hinter einem harmlosen Unterwäscheknöpfchen am Rande eines Trichters stecken könnte, kann man sich mit ein wenig Fantasie zusammenreimen.

Dieses Neben- und Miteinander von zwei gegensätzlichen Welten zieht mich seit vielen Jahren immer wieder in den Bann. Manchmal verliere ich mich ziemlich auf meinem Weg zwischen den Grabensystemen, ich bin dann irgendwie ganz bei mir und doch aus der üblichen Welt gefallen. Manchmal ist dieses 100 Jahre alte Schlachtfeld ein äußerst mystischer Ort, der zwischen Realität und Vergangenheit osziliert und der es möglich macht, aus dem tobenden Leben in eine Art vorweltliches Totenreich zu steigen, das mit Zivilisation, wie wir sie kennen, kaum etwas zu tun hat. 1914 – 1918 schon gar nicht, und auch 2019 noch nicht. Vielleicht nie wieder.

Pretty far out shit, für jemand, dem eigentlich jegliches esoterisches Gefühl abgeht.

Oben Formuliertes ist mehr oder weniger das, was ich mir zusammenreime, um zu erklären, warum ich immer und immer wieder in irgendwelchen völlig abgelegenen Gegenden in Frankreich aufschlage. Mit einem sauschweren Rucksack auf dem Rücken. Und irgendwie seelig dabei.

Projekt Tisch

Ja ja, keine Chance mehr es zu leugnen: Ich möchte mir einen Gaming-Table bauen.

Es ist ja nicht so, dass ich mir wie alle vernünftigen Nerds mir so etwas für ein paar Tausend Euro kaufen könnte. (Allerdings gebe ich zu, dass ich ein paar Tausend Euro lieber in irgend etwas anderes stecke, als in einen Tisch. Teure Möbel waren noch nie so mein Life-Style).

Aber ich möchte mir das Ding anschauen können und sagen: Das habe ich selbst gebastelt. Dahinter steckt natürlich diese Tom-Hanks-Mentalität (Ich habe Feuer gemacht! Und rede mit einem Handball.), dieses elendige Männlichkeitsbild, dass man der Macher, der Bauer, der Schaffer sein muss, dass das irgendwie ein Leitbild ist, und ja, man kann seiner Prägung nicht in jedem Aspekt entkommen. Vielleicht sogar in keinem.

Vielleicht steckt da aber auch dahinter, dass für einen brilligen Akademiker, der gerne klug herauslabert, der viel vor einem Rechner sitzt und so halb in Fantasywelten lebt, ein frisch durchgesägtes Stück Holz eine erfrischend materielle Qualität hat, die einen irgendwie mit der Realität verbindet und eine Konkretheit schafft, die in meinem Leben eventuell Mangelware ist.

In den letzten 10 Jahren habe ich nach und nach bei Aufbautagen von LARPs, bei Theaterprojekten und Ähnlichem Stück für Stück ein wenig Holzbearbeitung erlernt. Ich habe sogar einen großen Maschinenschein gemacht (Den aber nur, damit ich an der Schule den Werkraum betreten darf und versichert bin, falls ich mir die Hand absäge). Einen Tisch habe ich schon mal gebaut, einen kleinen Küchentisch zwar nur, aber der sah auf den ersten Blick gar nicht so Scheiße aus, wie meine Stücke im Werkunterricht in der Realschule. Ja, ich war nicht immer gymnasial.

Anyway, ich habe mir einen Konstruktionsplan überlegt. Interessierte finden ihn hier.

An alle Werklehrer, die zufällig hier hereinstolpern und kräftig lachen wollen, oder alle anderen handwerklich Begabten: ihr könnt mir gerne Feedback geben oder Verbesserungsvorschläge machen. Freundlich.

Wann das Ding nun angegangen wird: Na ja, vermutlich eher Richtung Winter.

Probleme, dich ich lösen muss:

Ich habe nur eine Mietwohnung in der Stadt, keine Werkstatt.

Ich habe nicht das richtige Werkzeug und auch keinen Platz für eine Standkreissäge.

Wie wuchte ich das fertig verbundene Teil alleine herum?.

Na ja, Probleme auf die lange Bank schieben und dann doch irgendwie lösen, das ist tatsächlich etwas, für das ich mich beruflich ziemlich qualifiziert habe. Also: bleibt dran am Projekt Tisch.

Been there – Check.

Natürlich hat man Träume, die man gerne verwirklichen würde. Was habe ich mir also für das eine Jahr ohne berufliche Hundeleine um den Hals vorgestellt? Zum Abhaken oder traurig stehen lassen:

Im Westen nichts Neues

Ja, meine große Sucht der letzten Jahre: über die alten Schlachtfelder der Argonnen oder der Maas-Höhen streifen, mich in der Wildnis verlieren, mich nicht von Wildschweinen oder Blindgängern erwischen lassen. Warum das nur? Davon ein andermal mehr.

La France

Mein Französisch ist hundsmiserabel und ein gutes Beispiel, warum es keine gute Idee ist, Schülern für schwache Leistungen zufriedenstellende Noten zu geben (weil das bei mir so war). Ich würde mein Gestammel gerne ändern, ich finde Frankreich ein ganz wunderbares Land und ich brauche einen Französischkurs. Bien Sur!

Sail away

Eine Liebe, die noch älter ist, als die zu den verfallenen Schützengräben und traurig rostenden Mahnmalen: Die Liebe zum Meer und zum stillen Dahingleiten unter Segeln. Warum? Eventuell auch dazu ein andermal mehr, hier nur so viel: Ich möchte ein wenig unterwegs sein. Ich kann an Deck ein bisschen was und brauche unter Deck nicht viel, schön wäre also etwas nach dem Prinzip: Hand gegen Koje.

Tue Gutes

Jaja, der alte Moralist, kann er sein Jahr nicht ganz hedonistisch mit Herumreisen und Flüge buchen verbringen, wie andere? Irgendwo möchte ich mich nutzvoll einbringen, am besten da, wo es mir Spaß macht, allerdings hat die Recherche bisher eins ergeben: Sogenannte „Volunteer-Programme“ sind leider nur ein Reisebüro für orientierungslose Abiturient*innen. Drei Wochen Lama-Streicheln in Peru für 4000 Euro? Nein, Danke. Aber was dann?

Bau halt was!

Im Technikunterricht in der Realschule hatte ich Kästen mit vier unrechten Winkeln und galt jahrelang als typischer Akademiker mit Brille und handwerklicher Dysfunktionalität. Das hat sich inzwischen ein bisschen verändert. Mal sehen, was ich so hinbekomme. Oder was alles nicht.

Nerdiges

Nichts wirklich Neues bei mir. Gestehen wir es der Welt: Ja, ich habe seltsame Hobbies. Ich larpe, spiele Pen & Paper, kann mich wohl als Hardcore-Gamer bezeichnen und komme bei Battlefield V gerne mal unter die besten 10, manchmal unter die besten 5. Wenn dir das etwas sagt: willkommen unter den Nerds. Wenn du nicht weißt, was das heißt, aber „Game of Thrones“ auf Netflix gestreamt hast: Was immer du dir einredest, du bist keiner.

Alles, was mir durch den Kopf geht, lässt sich irgendwie unter diese Kategorien bringen. Jetzt wäre das mal von der Seele geschrieben.

Last Man on Earth

Der Tag kam und ging wieder.

Ich hatte ihn: Meinen letzten Schultag. Und es war der erste Ferientag.

Überreste eines Berufslebens: Der Anteil für den Papierkorb.

Gleich vorneweg: Wer unbedingt am Abend des letzten Schultages noch vor den großen Ferien eine Kulturveranstaltung durchziehen will, der muss damit rechnen, dass er am nächsten Morgen den Saustall samt Bühne wieder wegräumen muss. Das war nichts Neues, das war die letzten Jahre immer das Ende des Arbeitsjahres und man hat ja auch treue Seelen mit dabei, die das mit einem gemeinsam tun.

Also alles wie immer.

Als das gemeinsame Aufräumen dann durchgezogen war, kam der Teil der Veranstaltung, der neu war: Alles muss raus. Also nicht nur den Platz aufräumen und das Postwurffach endgültig leeren, sondern auch das Schließfach und das Regal. Nix mehr mit: „Die Kaffeetasse schließe ich über die Sommerferien ein. “ Eher ausziehen als Pause machen. Eher Wohnortwechsel wie Heimaturlaub.

Alles in allem war das ganz schön viel Scheiß, der von der Schule mit nach hause musste, ziemlich genau ein Kofferraum voll. Und natürlich war ich zu dem Zeitpunkt ganz alleine im Schulhaus unterwegs.

Ein Schulhaus ohne Drogenzirkus kann die entspannendste Sache der Welt sein. Oder die unheimlichste. Vor allem wenn du in dem Bewusstsein hindurch gehst, dass du lange nicht wiederkehren wirst. Du kennst jeden Zentimeter in und auswendig, zehn Jahre lang bist du die Wege abgegangen, der alte Teppichboden, die verwaisten Gruppenarbeitstische in der Aula, dass sinnlose Summen des Kaffeeautomaten, in die sommerlichen Lichtstreifen hinein, die von Außen in die Gänge fallen.

Und plötzlich kriegst du Endzeitstimmung. Und hast das Gefühl, das ganz dicht hinter deinem Schiebewagen gleich der Sensenmann schleicht und dich hungrig angrinst.

Der Schiebewagen war notwendig, weil ich den vielen Scheiß nicht von Hand zum Auto tragen wollte, das nur zur Erklärung.

Warum ist das so: Dass man sich 7 Jahre lang auf einen Moment freut, und wenn er da ist, fühlt man sich einsam und wie der letzte Mensch auf der Erde?

Fiese Scheiße.

Als ich dann im Auto sitze und mir eine Runde Podcast mit Oli Schulz und Jan Böhmermann gebe wird es etwas besser. Danach erst einmal übernächtigt eine Runde Schlaf im heimischen Bettchen nachholen.

Abends geht es dann in die Stadt, mit guten Freunden treffen, Partytrubel ankucken und Bier trinken ist eventuell eine ziemlich gute Gegentherapie. Das Wetter ist zwar gottserbärmlich regnerisch, aber wenn ich mich schon davon abschrecken ließe, wäre es wohl wirklich besser im September wieder seinen Nachnamen an eine Tafel zu schreiben und einer Klasse zu erklären, was sie für einen Ordner bei mir brauchen.

Dann, auf dem Weg zur S-Bahn, reißt der Himmel etwas auf und dramatische Gewitterwolken treiben über die Gärtnereien. Ein Bild, ein wenig so wie von einem deutschen Romantiker gemalt, der Strommasten ungeheuer gut in das dramatische Konzept integrieren kann.

Die Angst vor dem Gehen verfliegt.

Vom Drogen-Zirkus in die Chill-Out-Lounge

Wann kommt man eigentlich raus?

Ende eines Alltags – Taschenchaos in der Diele.

Also ich in der letzten Woche des Schuljahres definitiv nicht. Dazu tobt zu sehr der alltägliche Schuljahresendwahnsinn. Das Irre ist, dass seit Mitte Juni von „Alltag“ allerdings nicht mehr die Rede sein kann, das Szenario gleicht eher einem wilden Terry-Gilliam-Streifen aus den frühen 90ern.

Man stelle sich also folgendes Set vor: Es geht auf einen neuen Hitzerekord zu, schon morgens um 10.00 hat es 30 Grad im Schatten. Der 40 Jahre alte Teppichboden, der großzügig in unserem Schulhaus verlegt wurde, verdampft einen Gestank, der irgendwo zwischen brennender DDR-Fabrik und einer Tüte toter Mäuse liegt. Dazwischen stehen und sitzen drei Dutzend Gestalten in roten Zellstoff-Overalls und Gruselmasken, also für Eingeweihte der Cast aus „Haus des Geldes“, der sich in den falschen Film verirrt hat.

Wer jetzt denkt, ich dichte mir das Bild zusammen, der kennt das Bildungssystem nicht. Die herumlungernde Netflix-Besetzung ist der „Abi-Gag“, der jedes Jahr stattfinden muss, obwohl er nie wirklich gelingt. Fällt aber auch nicht auf: „Muss jedes Jahr sein, bringt aber nix“ ist ja so etwas wie das Motto des Deutschen Bildungssystems, was erwarten wir auch, dass unsere Abgänger am Ende besser sind, als die Schmiede, die sie acht Jahre lang behämmert? Pun intendet.

Dazwischen stromern ca. 100 Unterstufenschüler, die darauf warten, dass irgend etwas Gagiges passiert, aber ihrer Enttäuschung nicht entkommen können, weil man den Abiturienten aus Sicherheitsgründen untersagt hat, vor 11.25 Uhr mit irgendwelchen Aktionen in Klassen zu gehen. Nun hocken die Zwölfer in ihren Kostümen rum, sind frustriert und lassen unmotivierten Trap Rap aus einer Boombox dröhnen. Na ja, die Box ist schlecht, die Bluetooth-Verbindung auch, der Spotify-Stream regelt die kpbs im Schulhaus wegen schlechten Empfangs sowieso automatisch runter, der Track krächzt und scheppert so im Hintergrund und stellt damit eine ziemlich gute Metapher auf den Digitalisierungs-Hype im Schulsystem dar.

Die herumirrende Unterstufe (meistens Jungs) sind irgendwie ihren Klassen entkommen, werden gerade von ihrem Lehrer nicht vermisst oder haben sich aus einem von 12 Filmen geschlichen, die in der letzten Woche pro Unterrichtsblock irgendwo laufen. Filme gibt es vor Weihnachten und vor den Sommerferien, die gewiefte Sekundarstufler*in weiß das, der Film zeigt das Ende einer Phase an, so wie das Flimmern der Augenlider den eintretenden Tod eines Patienten. Es kann etwas Erlösendes haben.

Um das Chaos zu vervollständigen wird irgend ein Wagen mit Kuchen und Kaffee für eine verspätete Besuchsdelegation durch die Halle manövriert, 2-3 Handwerker liefern schon einmal Material für die anstehenden Sommerferienrenovierungs-arbeiten an und ein älterer Herr wird furchterfüllt von einer liebevollen Begleitlehrerin durch das Inferno geführt, weil er ganz am Ende des Schuljahres noch von seinen Erfahrungen in der DDR / seinem Alkoholproblem / seinen Bioziegen auf der schwäbischen Alb berichten muss. Vielleicht ist es auch ein Elterngespräch mit dem erziehungsberechtigten Großvater.

Jetzt käme natürlich der paradigmatische Vergleich der Schuke mit einem Irrenhaus, wenn man noch Irrenhäuser hätte und nicht Psychatrien, in denen Tagesabläufe eher strukturiert und zielgerichtet ablaufen sollen. Und selbst die durchgeknallste Psychatrie wäre wohl nicht fair behandelt, wenn man sie mit unserer Schuljahresendapokalypse vergliche. Also vergleichen wir das oben flott gepinselte Sittengemälde lieber mal mit einem Zirkus auf Drogen oder einem Fiebertraum aus Dantes Vorstellungskraft. Fies, aber nicht unzutreffend.

In diesem Chaos versuche ich mit einer Kollegin im geöffneten Musiksaal (da gibts so Wände, die man aufklappen kann, egal, kompliziert, strange, wie alles) eine Bühne hochzuzimmern für die nächsten zwei bis drei Kulturveranstaltungen, die in dieser Woche noch über die Bretter müssen. Ich bin irgendwie immer der, der an der Bühne endet, das finde ich auch gar nicht schlimm, im Gegenteil, man hat beim Bugsieren von Podestteilen und Stellwänden durch das Chaos einigermaßen das Gefühl etwas Sinnvolles zu tun, weil am Ende was Konkretes da steht, und das ist ein rares Gut am Ende des Schuljahres. Den ca. 10 Achtklässlern der Realschule, die zum Helfen verdonnert wurden, scheint es ähnlich zu gehen, sie wirken nicht undankbar, das Geschraube, Geschiebe und Gewuchte ist geradezu eine Oase der Ruhe und des Sinnstiftenden in dem uns umgebenden Gemälde aus der Feder von Hieronymus Bosch.

Die Bühne steht, die fünfte Stunde beginnt, die verbleibenden Zwölfer gehen mit Süßigkeiten beladen in irgendwelche Klassenzimmer, ich könnte eigentlich nach Hause, klebe noch schnell eine eingerissene Gasmaske mit Gaffatape zusammen (brauchen wir für ne Aufführung, egal, kompliziert, strange, wie alles), stelle verblüfft fest, dass sie aus dem Zweiten Weltkrieg stammt, finde es dann doppelt schade, dass der Gummi gerissen ist, leere mein Postfach, weiche kreischenden Unterstufenschülern aus oder schiebe sie aus dem Weg, gehe gegen Zwölf Richtung Parkplatz.

Und jetzt kommts: In meinem Kopf läuft das für mich unter dem Stichwort „Alltag.“

Wie abgefahren.

Nur bleibt die Frage: Wie kommt man da „raus?“ Wie lange braucht es, bis man mental in einer weniger durchgeknallten Welt angekommen ist?

Und: findet man dann hinterher jemals wieder zurück in den Drogenzirkus?

Nun, ich habe eine Website.

Update, 18.11.2019

Etwas weniger als ein halbes Jahr läuft jetzt mein Blog. Er ist technisch noch immer laienhaft, aber er tut das, was ich mir versprach: Er fasst meine Erlebnisse in diesem Auszeitjahr zusammen und bietet mir eine Plattform, Dinge zu dokumentieren und Ideen und Gedanken zu verschriftlichen.

Ob du selbst als Lehrer*in mit Sabbatical-Plänen nach Erfahrungsberichten suchst, ob du hier reingestolpert bist oder ob du mich persönlich kennst und gerade wissen möchtest, wo Achim steckt und was er treibt: Fühl dich eingeladen hier zu lesen. Wenn du’s gut findest, dann like es, sobald du online aktiv bist wirst du leider geil auf Clicks. Wenn du es noch besser oder ganz schrecklich findest, dann kommentiere es.

Inzwischen im Freistellungsjahr angekommen kann ich folgendes Zwischenfazit ziehen: Die beste Entscheidung, die ich seit langem getroffen habe. Denn das eigene Leben ist tatsächlich ein sehr, sehr schöner Ort. Man neigt nur dazu, ihn im Alltag zu vergessen.

Originalpost, 20.07.2019

Eigentlich möchte ich dokumentieren, was mir dieses Jahr bringt.

Im Moment sitze ich aber eher da und versuche mich in die Gestaltung dieses Blogs einzulernen. Irgendwie ziemlich sperrig, und ich stehe ganz am Anfang. Im Grunde schreibe ich diesen Eintrag nur, weil mir das Tutorial hier vorschlägt, ich solle meinen ersten Blog-Content nun schreiben.

Und dabei hat mein Sabbathjahr noch gar nicht angefangen. Es ist einfach nur ein verdammt schwüler Juli-Sonntag,

Da ist er wieder, der ewigwährende Zwiespalt: Eigentlich strebt Mann (Mitte Vierzig, bindungslos, wills noch mal wissen) nach Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, und stellt dann fest, dass er Dinge tut, weil es ihm eine Software empfiehlt.

Ob ich aus dieser Falle noch einmal entwischen kann? Erste Befürchtungen machen sich breit, zum Beispiel die: Ich sauge mir einen Text aus den Fingern, und mit einem Klick ist alles weg.

Es hilft nichts, Mann-der-es-wissen-will. Du musst es nun wagen abzuspeichern.

Introduce Yourself

„Introduce Yourself“ schlägt mir WordPress vor. Alles, was mir einfällt, ist „Loose Yourself“ von Eminem.

Vor sieben Jahren war ich 39, Die Briten waren selbstverständlich in der EU und niemand wäre auf die Idee gekommen, das die Amerikaner jemals einen offensichtlich gefährlichen Vollidioten zum mächtigsten Mann der Welt machen würden.

Nun, damals war es einfach bei meinem Dienstherren ein Formular abzugeben, das die Ansparung eines sogenannten „Sabbath-Jahres“ beantragte. Warum heißt es in der freien Wirtschaft offensichtlich „Sabbatical“ und für Beamte „Sabbath-Jahr?“ (Gut, offiziell heißt es „Freistellungsjahr“, aber das ist Amtsdeutsch, benutzt im vernünftigen-menschlichen Sprachgebrauch keiner.)

2012/2013 war ich bereits lange genug dabei, um im Job als Lehrer Ausfallserscheinungen und Burnout-Ängste zu entwickeln, kurz genug, um zu wissen, dass die Strecke bis zur Pension noch elendig lang werden würde (und, sind wir ehrlich, hinter der Pensionierung steht doch schon der Sensenmann in Lauerstellung) und alt genug, um zu wissen, dass ich nicht mehr jung bin und nie wieder sein werde. Alt genug, um zu ahnen, dass man das letzte bisschen Power, das in den müden Knochen noch steckt, vielleicht auch für was Schöneres einsetzen könnte, um noch einem Jahrgang Abiturienten Gedichtinterpretation und Reformpolitik der Sozial-Liberalen Koalition beizubringen.

Und jetzt sitze ich da mit diesem Jahr, das ich mir selbst geschenkt habe, und es steht an.

Es macht mir ehrlich gesagt ein wenig Angst: Ich habe beim Organisieren gepennt und eigentlich steht noch gar nix. Aber ab September wird alles anders werden, als es all die Berufsjahre davor war undschauenwirdenTatsacheninsGesicht: Wenn man älter wird nimmt man Veränderungen gar nicht mehr so gut auf.

Ich freue mich auf dieses Jahr Zeit andererseits wie ein Schneekönig.

Wobei sich die Frage stellt, auf was sich Schneekönige eigentlich genau immer freuen (auf Schnee?) und wer auf diesen blöden sprichwörtlichen Vergleich überhaupt kam.

Egal.

Ich bin Achim, 46 Jahre alt, seit 2002 Lehrer und nunmehr seit 10 Jahren Stuttgarter.

Ich habe Pläne.

Davon ein andermal mehr.