Im Moment ist die Zeit zwischen den Zuständen. Aschermittwoch. Es ist gerade weder richtig Winter, noch schon Frühling. Im Februar gibt es wenig feste Ereignisse, Feiertage, strukturgebende Punkte im Kalender. Er schwebt am Jahresanfang im luftleeren Raum, der Februar ist ein Nichtmonat, was man auch daran erkennt, dass er untypisch kurz ist und man den Schalttag an das losgelöste Raumschiff Februar geheftet hat.
In diesem Monat ohne Eigenschaften stehe ich in der Mitte der Dinge. Halbzeit, Bergfest, 50 % Akkuladung, wie man es auch immer nennen will: Ich habe seit Juli sieben Monate blau gemacht, und bis es im September weiter geht werden noch einmal sieben Monate ins Land gehen.
Ich gelte gemeinhin als grummliger Pessimist, nicht ganz zu Unrecht. Mittlerweile scheine ich allerdings echten Optimismus oder eine Art Zen-buddhistische Fröhlichkeit in den tiefen Schluchten meiner Seele gefunden haben. Gerade ist mein Glas keineswegs halb leer getrunken, sondern es ist nochmal so viel Zeit ganz alleine für mich drin.
Noch einmal genau so viele wunderbare Wochen.
Das fühlt sich alles ziemlich gut an. Wenn mich früher einer fragte: „Wie geht es dir,“ so antwortete ich in der Regel mit „gut,“ nicht nur, weil es die einzig mögliche Floskel ist, sondern weil es Tatsache war, dass es mir gut ging. Heute antworte ich mittlerweile „fantastisch,“ weil es ganz unfassbar ist, wie gut-plus-gut es mir gehen kann, wenn ich mich in meinem mit durchaus schönen Dingen angefüllten Leben nicht fortwährend mit einem kaputten, in sich komplett verhakten Bildungssystem herumschlagen muss, dass einerseits schwer an absoluter Ressourcenlosigkeit für irgend etwas erkrankt ist, andererseits ständig seine eigene politische Top-Qualität herausstreichen muss.
Dieser peinliche Widerspruch nervte mich. Jetzt, wo das weg ist, geht es mir so geil, dass es unverschämt ist, es zu äußern.
Dabei muss klar gesagt werden, dass der Stress und der Ärger im Hals nicht von den Kids kam. Die sind, wie sie sind, nicht viel anders, als wir in der Schule auch waren, nur mit Internet. Grundsätzlich sind Schüler*innen oft total nette Menschen, mit denen man schöne Zeiten im Klassenzimmer haben kann, und am Ende sogar sieht, dass viele Leute etwas dabei gelernt haben. Eigentlich ein toller Beruf.
Ich habe mich Anfang des Monats sanft an einem Erstkontakt mit meinem gerade ruhenden Job versucht, indem ich auf das Probenwochenende unserer Schule mitfuhr. Lehranstalt vom Feinsten: 60 Schüler*innen aller Altersstufen, die alle Theater-Spielen und/oder im Chor singen, drei Kolleginnen, die ich getrost als Freunde bezeichnen darf. Alle sind da, weil sie Kunst und Kultur lieben. Besser kann Schule nicht werden.
Zwei Sachen waren damit getestet: Erstens: Ich habe es nicht verlernt. Als Pädagoge wirken so gut es geht, Leute anscheißen, die nach Bettruhe durch die Jugendherberge geistern, Ideen für Theaterarbeit haben: Ging alles noch glatt von der Hand.
Zweitens: Die Arbeit mit Schüler*innen ist tatsächlich etwas, dem ich mit Freude entgegenblicke.
Das heißt natürlich, so lange es diesen Aspekt der Bildungarbeit noch geben wird. „Theater“ und „Chor“ klingt wohl im Jahr 2020 unschick und unglamorös, so altmodisch eben. Wenn man Ressourcen benötigt, um „digitales Lernen“ oder „europäische Integration“ hochzuziehen, dann sind so alte Klitschen immer davon bedroht, dass man rückbaut, um sie als Steinbruch zu verwerten.
Aber das zeigt meine Zukunft.
Denn noch bin ich raus. Und mittlerweile bin ich so raus, dass ich mit tiefster innerer Entspannung durch mein Leben gehe, Tische fertig schraube, Flüge nach Moskau buche, Rollenspiel-Conventions in den Kalender eintrage. Mein Glas ist halb voll und ich weiß, dass ich jeden Schluck genießen werde.
Es ist Aschermittwoch, Abenddunkel, ich schreibe in einer Ferienwohnung im winzigen Kaff Lacroix-sur-Meuse. Heute nachmittag saß ich in den Argonnen, tief im Wald auf einem umgestürzten Baumstamm und aß aus meiner Pausenbox Käse, Brot und ein hartes Ei. Es hatte dummerweise, gerade als ich mein Futter aus dem Rucksack geholt hatte, wieder angefangen zu graupeln, also kaute ich mit tief über den Kopf gezogener Kapuze, damit es mir den Käse nicht vollgraupelt und sah zu, wie der bemooste Buchenwald langsam kleine weiße Pixel ins satte Grün bekam. Man mag denken, im Graupelschauer im Wald zu hocken sei ganz schön scheiße, aber ich war wieder in meiner zen-buddhistischen Haltung und ruhte in mir, außerdem taugt mein neuer Parka für die nordrussischen Sümpfe ziemlich viel.
Mir ging es fantastisch.
Der Graupel hört auf wie mit dem Schalter abgestellt. Ich sehe hoch, streiche mir die dicke Kapuze vom Kopf und blicke in den weiß getünchten Forst, den Abhang hinunter ins Tal. In diesem Moment bricht die Sonne aus den Wolken und überflutet den Wald mit gleißend weißem Licht. Die hohen Stämme leuchten auf, das Licht bricht sich in jedem Eiskorn, nasses Moos und nasse Blätter glänzen plötzlich wie frisch poliertes Silber.
Ich sitze in der Mitte dieser unfassbaren Herrlichkeit und ich weiß, dass gerade kein anderer Mensch in der Nähe ist. Der Moment gehört damit zu 100 Prozent ganz mir. Kein König könnte mehr besitzen als ich in dieser Sekunde.
Ich bin dermaßen raus. Ich stehe in der Mitte der Dinge.
Wer immer das ließt und die Möglichkeit hat, sich irgendwie dieses Auszeitjahr zu organisieren: Tut das unbedingt. Ob ihr 11 Monate Weltreise mit dem Bierbike durch Ozeanien plant oder lieber wie ich im Februar bei zwei Grad französischen Käse im kalten Wald mümmelt: Ihr werdet eine fantastische Zeit haben.