Deichkind ist eine fantastische Band, die seit Jahren großartige Musik mit klugen Texten macht. Eine Band, die Liveshows abfeuert, die man eigentlich gar nicht glauben kann und der es als einem der wenigen deutschen Acts gelingt, populäre Musik und abgefahrene Grooves mit inhaltlichem Sendungsbewusstsein und einem faszinierenden Sinn für groteske Kunstperformance zu verbinden.

So viel Lob muss an dieser Stelle sein, wenn man „Deichkind“ sagt.

Warum aber, warum oh Deichkind, ziehen deine Konzerte so viele Vollhonks an? Um es laut auszusprechen: Warum ist die Schleyerhalle voller Deppen, wenn du aufspielst? Liegt das an Stuttgart als Spießer-Stadt? Ist das in Hamburg genau so?

Ja ja, darf man sich jetzt mit Fug und Recht denken, schon wieder ein Konzertbesucher-Rant aus der müffeligen Ecke von Grumpy Old Boy. Das ist richtig. Aber ich kann nicht anders, denn, liebe Leude von Deichkind, es war schrecklich am Freitag. Und nein, nicht ihr auf der Bühne, ihr wart wie immer, wenn ich euch sehe, leider geil. Nicht ganz so geil wie bei der letzten Tour (das führte jetzt auch zu weit), aber immer noch ziemlich, ziemlich sehr sehr geil.

Die Zuschauer haben mir das Konzert versaut.

Das Kernproblem ist immer noch das gleiche wie auf dem Konzert der Eels, über das ich vor geraumer Zeit geschrieben habe: zu viele Vollhonks, die wegen ihrer Kumpels / Kumpelinen da sind und nicht wegen der Musik. Oder die sich unwohl fühlen, wenn sie nicht ständig die Aufmerksamkeit der Peergroup auf sich ziehen.

Bei Deichkind waren das mehrheitlich Kerle, stark angetrunkene Männer zwischen 30 und 40, das erklärt einiges, aber entschuldigt nicht viel. Es werden im folgenden Fan-Verriss auch einige Frauen vorkommen, aber zumindest in meinem Radarbereich waren die in der Minderheit.

Gehen wir das Scheitern eines Abends aber chronologisch durch.

Am Anfang ist die Welt noch in Ordnung. Ich stehe mit meiner Lieblings-Konzertbegleitung und einem Bier in der noch nicht sehr gefüllten Halle und wir beobachten die völlig gelungene Video-Playlist, die statt einer Vorband läuft und die Halle, zumindest mich, ganz gut auf Stimmung bringt. Ab der Stelle hätte es noch ein schöner Abend werden können.

Deichkind fängt an. Plötzlich ist die Halle sehr voll, obwohl immer noch etwa 25 Menschen pro Minute durch genau unsere Querlinie zum Ausgang wollen oder wieder rein, Bier, Klo, eine Qualmen, so ein bisschen wie man einen Urlaubsvideoabend mit Bekannten verlässt, wenn die Bilder vom Tauchkurs bei Bodrum zu langweilig werden.

Nur dass die Bilder von Deichkind überhaupt nicht langweilig sind. Am Anfang wird als Videoprojektion Lars Eidinger in blaue Farbe getaucht und mit einem Kran an den Füßen aufgehängt über eine weiße Leinwand gezogen. Typisch Deichkind halt. Typisch Eidinger halt. Aber echt cool.

Schon da geht es los mit überlaut herausgebrüllter Dummheit der Anwesenden. „Das ist doch dieser Schauspieler!“ (Ja, und die Band mit dem Dreieck, du Honk. Geh halt zu Gabalier). „Ach was, die Sau steht doch drauf!“ (Klasse, ein SM-Witz, hat deine Frau kürzlich „Mit Shades of Grey“ angefangen?) „Am Ende steht da sicher fett „Deichkind“ auf der Leinwand, Alter!“ (Nein, das wäre bei Mark Foster so, Deichkind funktioniert nicht so simple.)

Man merkt, dass der Horizont der Leute um uns herum etwas PS-schwach ist und sagt sich: Klar, so ist Deutschland halt in der Mehrheit.

Aber wieso gehen die zu SONER MUSIK?

Deichkind macht weiter, stellt abgefahrene Choreos, fährt Lichtsäulen herum, lässt absurde Gestalten über den Stage tanzen. Die Umgebung interessiert das nicht so. Sie sind in das Ohr der besten Freunde versenkt. Der Sound ist Scheiße (Schleyerhalle halt), aber laut, so dass sie ihre Plaudereien brüllen müssen. Das Problem ist, dass wir die Gespräche verstehen und uns krampft sich dabei der Magen zusammen. Links: Die Auswahl von Fließen für das neue Eigenheim. Rechts: Er will mit dem Rauchen aufhören, möchte jetzt aber am liebsten raus, um eine zu qualmen. Beide Themen erfordern intensive Beratung. Für die läuft Deichkind nebenher.

Ich würde die Band gerne sehen.

Ungebremst läuft dazwischen der unendliche Strom von Leuten die aus der Halle rauswollen oder mit Bier wieder rein. Alle naselang checken die Leute hier WhatsApp oder schreiben drei Minuten lange Posts. Deichkind läuft nebenher. Der nächste Tiefpunkt folgt auf dem Fuß: In der Gruppe hinter uns beschließt der aggressivste der Jungs eine Moschpit in der Mitte des Zuschauerbereichs zu eröffnen. Weil er – jetzt – Party. Er dreht sich mit ausgebreiteten Armen und einem Jubeln, das allen zeigen soll, dass er jetzt Spaß haben will, und die, die das nicht wollen, einfach nicht gut genug drauf sind, im Ringerschritt im Kreis und schiebt die Leute, die seiner Party im Weg sind, weg. Ich und meine Konzertbegleitung sind noch so blöd, höflichkeitshalber auszuweichen. Höcke-Junior (er sieht ein wenig so aus) erkämpft sich also erfolgreich unseren Lebensraum und beginnt mit seinen Kumpels im Kreis Moschpitt zu machen. Weil so ist ja Punk. Glaubt er.

Die nächsten fünf Minuten bin ich damit beschäftigt, mich vor meine Begleiterin zu stellen, und mir zu überlegen, welche Abwehrbewegung gegen herumhüpfende vollgesoffene Fettsäcke im 14. Semester ich als nächstes anwende. Sanft mit der flachen Hand den moschenden Gesichtsunfall mit der Drahtbrille wegdrücken? Das interessiert den nicht. Zwei Finger ausstrecken und ein kräftiger Death-Punch in die Nieren? Das würde er noch mitkriegen, führt aber zur Schlägerei. Apropos Brille: zwischendrin kriecht tatsächlich einer im weißen T-Shirt auf dem völlig mit Bier verklebten Boden der Schleyerhalle herum und sucht offensichtlich etwas, vermutlich tatsächlich eine Brille. Kann er wohl mal vergessen.

Deichkind läuft nebenher.

Wir beide ergreifen die Flucht und erkämpfen uns 20 Meter westlich einen neuen Platz. Zum Abschied stelle ich noch einem der Mosch-Nazis ein Bein, aus purem Hass. Wir hoffen, an unserem neuen Standort endlich ein gutes Konzert zu kriegen. Die Hoffnung wird wieder enttäuscht.

Kulminationspunkt aller zahlreicher Störungen, die bis zur Zugabe uns davon abhalten, ein schönes Deichkind-Erlebnis zu haben, ist eine Gruppe, die ich für Bankkaufleute halte. Am Ende der Ausbildung oder so. Oder aus ’nem Potentialträger-Program bei der VW-Bank. Mit der Verlobten hier. Spießer-Frisuren. Aber behängt mit LED-Blinklichtern aus dem Angebot von AliExpress, um den Deichkindstyle zu erreichen. Sie verfehlen ihn.

Auch sie sind voll auf Paaaardy getrimmt und tanzen – wie immer wenn kulturell Blöde in Großgruppen weggehen – im Kreis. Für sie ist das hier einfach nur eine Großraumdisko, in der Deichkind-Tracks laufen. Auf die Bühne kucken sie selten, so wie man halt ab und zu im Döner auf den Flachbildschirm mit türkischen Musikvideos glotzt. Sie haben offensichtlich das Kunstwerk Deichkind anders verstanden als ich. Sie nehmen alles auf der Wortebene, auch wenn man sie dazu komplett verdrehen muss. „Niveau-weshalb-warum“: Eine Kluge Kritik am niederen Tellerrand hierzulande? Nein, eine Feier-Hymne auf die eigene Dumpfheit! Die „internationale Getränkequalität“ habe eine politische Dimension? Ach, Quatsch, da geht’s um’s saufen. SAUFEEEEN! „Roll, das Fass rein“: Kritik am Alltagsalkoholismus einer zutiefst unglücklichen Gesellschaft? Hä, was Alter? SAUFEEEEN!

Ab und zu machen sie ein Foto mit dem Handy. Nicht von Deichkind, sondern von sich selbst beim Tanzen. Kotz.

Sie tanzen im Kreis. Sie unterhalten sich dabei ununterbrochen, sehr laut. Irgendwann beschließt Caveman, mit wallendem schulterlangen Haar und Grizzly-Adams-Bart, dass er Nina aus dem Controlling auf die Schultern nehmen will. Leider ist Caveman einen halben Kopf kleiner als ich (wer mich kennt weiß, dass das wirklich nicht besonders groß ist) und Nina ist ein wenig speckiger als er. Er stemmt sie einfach nicht, was natürlich saupeinlich ist. Das kann Caveman vor Nina nicht auf sich sitzen lassen. Also holt er Renton aus „Trainspotting“ zu Hilfe, und gemeinsam packen sie Nina an ihren drallen Schenkeln und wuchten sie zu zweit auf Brustbeinhöhe. Dann schütteln sie irre kichernd die arme Nina wie einen alten Getreidesack, den man ausleeren will. Das muss in der engen Jeans von Nina und bei dem unkontrollierten Gewackel des Oberkörpers, der nur von ihrer Bauch- und Rückenmuskulatur gestützt wird, ganz schön unangenehm sein. Sie traut sich trotzdem 30 Sekunden lang nicht, den Vorgang abzubrechen, auch wenn man an ihrem unangenehm verzerrten Gesicht, das zum ersten Mal nicht schrill vor sich hin lacht, ablesen kann, dass sie die Nummer nicht cool findet.

Deichkind läuft nebenher.

Währenddessen auf den Sitzplätzen um das Hallenrund, berichtet aus dem Mund von Freunden, die zufällig auch da waren: Hinter ihnen sitzt eine Familie mit zwei kleinen Kindern, so etwa 8 und 10. WTF!? Im DK-Konzert? Ok. „Na?“, sagt der Papa zum Sohnemann, „So was Cooles machen wohl die Eltern von deinen Klassenkameraden nicht mit ihren Kindern, was?“ Ja, Alter, weil sie nicht so verantwortungslos sind wie du mit deiner Ische! Was soll ein Grundschulkind mitten in der Nacht hier, wo weder die Texte noch die 4000 Vollbetrunkenen altersangemessen sind!? Egal, Papa fühlt sich cool. Außerdem bittet er die Sitzreihe vor Familie Kowalsky aus Feuerbach darum, doch bitte beim Konzert nicht aufzustehen, weil sonst die Kinder nichts sehen. Gottseidank legen sich die Knirpse in der Mitte des Konzerts völlig reizüberflutet hin und starren mit offenen Augen an die Decke.

Zurück im Stehplatzbereich. Deichkind ist mittlerweile bei der Zugabe angekommen. Gottseidank, das Elend hat also bald ein Ende und ich kann endlich in Ruhe über die Leute abkotzen. Die Bausparkasse Ludwigsburg um uns hat den Höhepunkt ihres Clubbesuchs erreicht und hüpft fotografierend. „Jipiyeah – Krawall und Remmi-Demmi!“ Das ist offensichtlich eine weitere Feierhymne auf die eigene Einfachheit, wie jeder DK-Track in ihrem Universum. Sie können den ganzen Text auswendig, ohne seinen Inhalt auch nur eine Sekunde wahrzunehmen. Eigentlich bewundernswert. Eventuell sind die mittelmäßig Dummen glücklichere Menschen. Die haben Spaß – ich nicht.

Deichkind verabschiedet sich mit einem „Gute Nacht“- Dia, die CNC-Fräßfirma aus Winnenden mit den Blinkeschildchen verlässt innerhalb von 12 Sekunden den Platz. S-Bahn und so, morgen früh ist Fußballtraining, ihr wisst schon. Ich blicke meine Begleitung zutiefst desillusioniert an und sehe in ihrem Blick: Die selbe Emotion.

Was ist eigentlich los in diesem Land, so dass sich die Konzertkultur innerhalb von 5 Jahren so gedreht hat? Ist das Netflix, so dass alles als Stream mit sich selbst als Mittelpunkt wahrgenommen wird? Ist dass die neue europäische Leitkultur des einfachen Durchsetzens hedonistischer Selbstinteressen gegen das Allgemeinwohl, die in Thüringen, an der griechisch-türkischen Grenze und in der Konzerthalle gleich gut funktioniert? Irgendwie ist das nicht mehr mein Land.

Das nächste Deichkind-Album kaufe ich mir bestimmt. Die nächste Tour ..?

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3 Kommentare

  1. Ich stimme dir im Großen und Ganzen zu. Du beschreibst anhand deines Konzerterlebnisses den derzeitigen Zustand gesellschaftlichen Zusammenlebens. Durch die Sozialen Medien und deren Suchtmechanismen erlebe ich oft mich und meine Mitmenschen wie die Schlafenden im Film Matrix. Das Da-Sein, vor Ort im Hier und Jetzt fällt uns allen, meiner Meinung nach, immer Schwerer. Und diese Entwicklung verstärkt eher unsere schlechten Eigenschaften als Mensch. Es ist im Grunde genommen asozial.

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