Manchmal stößt man im Internet auf interessante Links. Zum Beispiel auf ein Marktforschungs-Unternehmen, das sich ganz auf die Analyse der Gamer*Innen-Szenen spezialisiert hat. Zunächst rechne ich mit einer relativ dumpfen „Auf-einer-Skala-von-1-10“-Umfrage, dann finde ich ein relativ kluges Tool, dass algorithmisch von meiner Selbstklassifizierung („Hardcore-Gamer mit fetter Hardware“) und den letzten von mir als gut befundenen Spielen mich als Zocker durchleuchtet.

Rückblende:

Weihnachten 1984. Wie immer geht es kurz vor den Feiertagen mit dem Opel Richtung schwäbische Alb. In Göppingen wohnt meine Patentante samt Family, da kommt man regelmäßig vorbei. Die gute Seite: Man bekommt schon mal Geschenke vor Heilig Abend. (Die sind allerdings oft pädagogisch angehaucht, meine Tante war Lehrerin). Die schlechte Seite: Mir ist in diesem Reihenhaus dort oft unendlich langweilig. Mein Cousin ist vier Jahre älter. Das ist, wenn man 11 ist, eine Welt. Meine Cousine ist vier Jahre jünger. Das ist, wenn man 11 ist, eine Welt.

Erste Rettung war die Lustige-Taschenbuch-Sammlung meines Cousins. Das trug mich durch die Jahre 6-10. Lesen konnte ich schon immer erstaunlich schnell, und irgendwann hörte mein Cousin auf, sich die Ausgaben zu besorgen, und der Nachschub versiegte. Langweilig!

Dann kommt die zweite Rettung und sie wird lebensverändernd sein. In jenem Jahr steht unter dem Dachboden im Schülerarbeitszimmer ein C64. Für alle in der Geschichte der Heimelektronik Unbeleckten: Der Commodore C64 war nichts weniger als eine digitale Revolution, der erste leistungsfähige Heimcomputer zum erschwinglichen Preis, der für Computerspiele optimiert war. Er hat Farbgrafik. Einen Sound-Chip („SID“), der vier Tonsorten dudeln kann. Und ein Floppy-Laufwerk mit billigen Wechseldatenträgern.

Weihnachten 1984 öffnet sich mir diese Welt. Eine wabbelige Plastikscheibe in den Datenschacht geschoben, einige Befehle auf den blauen Bildschirm tippen, und schon steige ich in ein Raumschiff und versuche, Aliens aus dem Himmel zu ballern. Oder ich schwebe als kleiner Roboterball durch eine Raumstation, und übernehme immer größere und bessere Droiden-Modelle. Oder ich belagere eine Ritterburg und erobere England.

Oder. Oder. Oder.

Heute sind die lächerlichen, klobigen Pixelhaufen aus den 80ern ein Amüsement, man versteht nicht, wie die flachen 2D-Flecken, das Gepiepse und Geschnarre eine immersive Spielerfahrung aufbauen konnten; Damals ging ein Kosmos an eskapistischen Alternativentwürfen für uns auf.

Computerspiele machten mich schnell hochgradig süchtig und ich war voll drauf. Auf meinen ersten eigenen Datenknecht musste ich allerdings bis 1987 warten, als das Konfirmationsgeld komplett für einen 64er verbraten werden durfte. Schuld war mein Onkel – immerhin Informatikprofessor -, der meinte, mit 12 sei ich zu jung für einen Computer. Wohlgemerkt zu jung für die Hardware, nicht zu jung für die Spiele.

Wenn ich heute sehe, wie jede SUV-Mutti ihrem 10-jährigen ein Smartphone in die Hand drückt („Sicherheit!“), kann ich da über die Ansichten von 1984 nur grinsen.

Schule war doof, Familie schwierig, mein Leben klein und unbedeutend, mein Vorort öde; Der Computer erlaubte mir, aus dem grauen Beton der Hochhaussiedlung in die bunte Welt der Pixel abzutauchen. Mit „Pirates!“ baute ich mir ein eigenes Piratenimperium und legte mich mit Kolonialnationen an. Noch heute kenne ich mich auf der Karibikkarte erschreckend gut aus. Mit „Ultima V“ erfuhr ich den Reiz einer riesigen, offenen Spielwelt und begab mich in die Rolle klassischer Fantasyhelden. Nebenbei trumpfte ich im Englisch-Unterricht mit Vokabelwissen auf, das meine Lehrerin in Schwierigkeiten brachte. Wie konnte sie nicht wissen, dass ein „Crossbow“ „Quarrels“ verschoss, und keine „Arrows“!? Spiele waren noch nicht übersetzt, ohne Schüler-Dictionary neben der Tastatur ging bei textlastigen Games für uns gar nix. In „Thunderchopper“ flog ich mit einem Comanche-Helikopter durch Berge und feuerte Raketen auf Pixelpanzer. Zivi und Anti-Militarist bin ich später trotzdem geworden.

Auch kein Amokläufer

Natürlich gehörte ich mit meiner Sucht zu den Nerds. In einer Realschule neben den ganzen dumpfen Sportverein-Prolos und Kettchen-Tussies der kluge Brillenheini mit den Disketten im Aktenkoffer zu sein (1987 waren Aktenkoffer in der Schule das Must-have, eine kurze Modeverirrung vor dem Erfinden des nicht weniger poschen Schulrucksacks), zurück zum Text: der dünne Nerdboy zu sein war nicht leicht. Aber man traf Gleichgesinnte, eigentlich immer Jungs, die auch zu klein, zu fett und/oder zu fantasievoll für das 0815-Schema der damaligen Otto-Normal-Jugendlichen waren. Danke, Schicksal, dass ich ein Weirdo war. Ohne Ironie.

Mit solchen Leidensgenossen gründete ich auch 1986 meine erste Rollenspielrunde, ja, in jener klassischen „Das-Schwarze-Auge-steht-in-jedem-Kaufhaus“-Phase, von der alle Normalos nie etwas gehört haben und die bei Rollenspielern heute vom Mythos der Gründerzeit umhaucht ist. Eigentlich eher nur als Versuch gestartet, die Weltenflucht irgendwie mit analogen Mitteln hinzubekommen (C64 gab’s ja für mich erst im Frühling 1987), bald mit der Erkenntnis, das ein Lifespiel an einem Tisch viel mehr Optionen eröffnet, als ein Programm. An anderer Stelle habe ich vor langer Zeit einmal etwas zu diesen frühen Rollenspieltagen geschrieben, wen es interessiert.

Und jetzt 2020, Zeitalter später, erzählt mir ein Algorithmus, der so komplex ist, dass man dafür 4000 C64 parallel schalten müsste, meine Hauptmotivationen für das Zocken seien offensichtlich „Immersion“ und „Fantasy.“ Ich wäre offensichtlich viel lieber Legolas anstatt Lehrer.

Schön, das mal von offizieller Seite bestätigt zu bekommen.

Vor 10 Jahren hätte man einen Jugendlichen mit meinem Spieleverhalten sofort in ein Therapeuten-Zimmer gesteckt. Anklage: Spielsüchtig. In meiner wildesten Session saß ich 8 Stunden am Stück mit meinem Kumpel Heiko vor „Pools of Radiance“ und wir schlugen uns durch die Ruinen von Phlan. Bis mich seine Mutter entnervt rausschmiss. Heute weiß ich, dass das Zocken mir auf Lebenssicht nicht groß geschadet hat, oder zumindest viel weniger, als wenn ich zum Beispiel mit 16 das Rauchen angefangen hätte. (Dafür werden junge Menschen bis heute nicht zur Therapie geschickt). Ich stemme meinen Beruf (irgendwie), habe, wenn nicht grad Corona ist, ein ausuferndes Sozialleben, renne durch Wälder, bin immer noch ziemlich fit und aktiv. Sozial in der Versenkung verschwunden und abgekoppelt von der Zeit sind eher die, die mit 16 Fußball gespielt und mit 30 Kinder bekommen haben.

Aber, aus der Welt flüchten können: Das motiviert mich bis heute.

Sei es mit Würfeln oder mit der Maus in der Hand, mit einem Gummischwert auf einer Wiese oder mit bunten Sammelkarten an einem Spieletisch: Wer imaginierte Welten nicht liebt, wird die Gegenwart immer als gegebenen Fixpunkt akzeptieren, zu der ein aufregender Gegenentwurf nicht fantasierbar ist. Flammende Plädoyers für die Nerds dieser Welt habe ich schon viele gehalten.

Zocker resignieren nicht. Sie imaginieren.

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