Tag 39 seit dem Close-Down aller Veranstaltungen, Tag 38 nach der Schließung der Kneipen und Clubs, Tag 36 nach der Schließung der Grenzen, Tag 34 nach dem Öffnungsverbot für alle Geschäfte, die nicht versorgungsrelevant sind, Tag 27 nach dem allgemeinen Gebot, sich maximal zu zweit in der Öffentlichkeit zu versammeln, Tag 1 nach der Wiederöffnung der kleinen Geschäfte.
Letzte Woche klingelt mein Festnetz. Es ist das Forstverwaltungsamt Nordwürttemberg, ein junger Mann mit afrikanischem Akzent, ein Herr Mowambo, er versucht mich seit Tagen dringend zu erreichen. Erst befürchte ich meine spontane Reaktivierung zur Verteidigung des Vaterlandes, aber dann ist es nur ein fehlender Antrag.
Der obige Absatz ist aus Gründen der Erträglichkeit gelogen. Es war natürlich nicht das Forstverwaltungsamt, sondern meine personalführende Dienstbehörde. Und die Staatdiener*in am anderen Ende war nicht männlich, nicht jung und der Nachname und der deutliche Akzent machten einen Migrationshintergrund eher unwahrscheinlich. Leider. Aber da ich Klischees verabscheue, noch dazu wenn sie politisch unkorrekt sind, und es noch mehr verabscheue, wenn Menschen ein Klischee erfüllen, möchte ich im Interesse der ideengeschichtlichen Bloghygiene weiter lügen, in der Gestalt, es habe sich um das Forstverwaltungsamt, genauer gesagt, um einen jungen Deutsch-Afrikaner mit Namen Mowambo gehandelt.
Herr Mowambo stellte fest, dass mein Stellenwirksamer Änderungsantrag („Stewi“) zur Wiederaufnahme meines Dienstes im September noch fehle, genauer gesagt der Umfang meiner Wiederbeschäftigung. Ob ich den bitte ganz schnell unter folgender Adresse einstellen könne? Ja, auch wenn sich an meinem Wunsch nach Vollbeschäftigung seit 2006 nichts geändert habe, mein Freistellungsjahr sei ja bereits eine relevante Änderung, also müsse ich meinen ununterbrochen gültigen Wunsch nach voller Beschäftigung ganz schnell neu äußern. Seit Januar.
Während dieser Erklärung hatte ich bereits das mir genannte Internetportal geöffnet und versucht mich einzuloggen. Herr Mowambo schien diese Geschwindigkeit meiner Reaktion etwas aus dem Konzept zu bringen. Da meinen Versuchen, Zugang zum Online-Antragsportal zu erhalten, kein Erfolg beschienen war, erkundigte ich mich übermotiviert, seit wann das Portal denn in dieser Form bestehe, ob ich beim Launch bereits eine offizielle Dienstadresse besessen habe, oder ob die Behörde by default alle Beschäftigten als User angelegt habe, denn weder meine Dienst-Email noch meine Privatadresse führten zu einem Login.
Ich hätte wohl die Wendung „by default“ nicht verwenden sollen. Ich glaube, ab da war Herr Mowambo überfordert. Ich könne ihm ja auch einfach schnell eine Email mit meinem Wunschdeputat schicken. Tout suite, sehr gerne, aber: formlos? Oder sei ein amtliches Formular für Herrn Mowambos weiteren Arbeitsprozess unabdingbar? An dieser Stelle beginnt mir Herr Mowambo zu erklären, was eine Email ist. Ich frage mich kurz, ob es nun sehr unverschämt wäre, Herrn Mowambo im Gegenzug zu erklären, dass das Wort „Systemadministrator“ sich vom griechischen „aus mehreren Teilen bestehend“ und dem lateinischen Verb für „ausführen“ ableitet, und beantworte meine eigene Frage mit „Ja.“ Immerhin ist das Forstwirtschaftsamt Nordwürttemberg eine vorgesetzte Dienstbehörde. Stattdessen hake ich nach: Genügt die Email formlos? Ja, in dieser Notsituation (ich vermute Herr Mowambo verknüpft meinen Fall mit der herrschenden Pandemie) sei sicherlich ein formloser Antrag zunächst einmal ausreichend. Während ich das Gespräch höflich beende, tippe ich schon eine Email mit folgendem Kerninhalt: Ich – wieder – 25 – Stunden.
Ich verwette eine Tasse Lumbumba darauf, dass das Webformular nicht nachgefordert werden wird.
Dieser kleine Zwischenfall scheint mir wahnsinnig typisch dafür zu sein, wie gerade mit der Idee der Digitalisierung des Staates (und der Schule) umgegangen wird. Als Schlagwort, als hölzerner Pappkamerad, schön bunt angemalt, aber ohne Substanz und Leben. Weil das System selbst von Menschen gelebt wird, die einfach keinen Fuß in die digitale Welt bekommen oder sie nie wirklich betreten wollten.
Ich habe schon an anderer Stelle über diesen grotesken Spagat zwischen politischer Reklame und faktischer Inhaltsleere in diesem Bereich geschrieben. Aber gerade die Coronakrise mit ihrer endlosen Beleuchtung von Online-Unterricht bringt mich dazu, den dummen Witz, der dahinter steckt, immer wieder zu wälzen, und einfach nicht zu verstehen, warum eine Gesellschaft diese Widersprüche nicht aufdeckt, ja nicht einmal ent-deckt. Jeder nimmt das Gelaber für bare Münze.
Ich rede nicht von dem jetzt wirklich sehr, sehr oft journalistisch nacherzählten Narrativ, dass nichts den persönlichen Kontakt ersetzen könne oder dass E-Learning ein Privileg für reiche Kinder sei. Das ist trivial, das ist einleuchtend, das ist völlig richtig, dass haben wir jetzt auch so langsam verstanden. Ändern wird es hier sowieso keiner, zu teuer.
Ich rede von dem unglaublichen Paradigmenwechsel der letzten Wochen, der die Gestalter von digitalen Möglichkeiten im Staat eigentlich unangenehmen Fragen aussetzen müsste. Oder kurz: Wie man eigene jahrelange Prinzipien im Handstreich für irrelevant und Fake entlarven kann, ohne dass jemand im Publikum zuckt.
Zu verklausuliert? Machen wir’s konkret. Sehen wir uns die digitale Welt einer Schule vor dem März 2020 an: DSGVO, blablabla, bloß-kein-nicht-EU-Server, blablabla, Genehmigung-der-Eltern-aber-schriftlich, blablabla, auch-eine-IP-Adresse-ist-personenbezogener-Datensatz, blablabla, Datenschutz-ist-europäisches-Menschenrecht, blablabla, leider-Fall-für-die-Staatsanwaltschaft, blablabla, Verfahrensverzeichnis, blablabla, Strafen bis zu 200.000 €, blablablbalbla Genehmigung-zur-Nutzung-eines-privaten-Datenverarbeitungsendgerätes-zu-dienstlichen-Zwecken, blubber, blablablblblbla, bbll lmaa.
Ich kann hunderte Verordnungsseiten aus dem Leitzordner hinter mir ziehen, die dieses, nun im Nachhinein (entschuldigung) „Geseier“, in Endlosigkeit reproduzieren. Bis hin zu dem Ergebnis, dass eigentlich digital in der Schule gar nix ging oder nur mit absurd hohem Verwaltungs- und Dokumentation-Aufwand.
Sehen wir uns die digitale Bildungs-Welt im April 2020, wenige Wochen später an: Tausende Lehrer*innen skypen mit ihren Schüler*innen. Ja richtig, in Sperrschrift: S k y p e. M i c r o s o f t. Nix-EU-Server. Unzählige Whatsapp-Gruppen für den Online-Schulbetrieb schießen aus dem Boden. Haben die alle notwendigen Genehmigungen? Ach so, ist ja egal, die Verordnungslage verböte ja ein Facebook-Produkt eigentlich in jedem Fall. „Verböte:“ Der Konjuktiv als handlungsleitendes Element. Schulleiter twittern stolz, sie hätten nun einen MS-Classroom eingerichtet. Vollzugsmeldungslust einer Dienststellenleitung, stolz verkündet, ab jetzt für immer jederzeit im Netz nachlesbar und beweiskräftig gesichert, für die Klageschrift des Anwalts. MS. Classroom. Meine armen arbeitenden Kolleg*innen mussten heute eine MS-Teams-Fortbildung über sich ergehen lassen. Und ganz sicher sind die Millionen Smartphones, Tablets, Macbooks, Laptops und Desktop-PCs, die jetzt aus Privatwohnungen heraus von den Kolleg*innen eingesetzt werden, auch mit allem Drum und Dran beim Land als astreine Dienstrechner registriert. Logo. Sicher. Rechtlich sauber.
Und die Datenschutzbehörden? Sind auf dem Rückzug. Na ja, nennen wir’s ungeordneter Zusammenbruch. Die Hamburger Datenschutzbehörde bezog medial Riesenprügel, weil sie Whatsapp im Schuleinsatz verboten haben soll. Die zwangsweise eingespielten Daten der Bürger*innen seien auf der Plattform wohl eher nicht so sicher. Nein, war nur ein Vorschlag an die Schulen. Ein bescheidener Hinweis. Ein unsachgemäßer Zwischenruf einer bis dato wichtigen Behörde. Aber das ist vorbei. Tut uns sehr leid.
Nicht falsch verstehen: Die Quasi-Einschränkung der digitalen Bürger*innenrechte von Schüler*innen und Schülern ist im Kanon der anderen Beschränkungen in dieser Notsituation nur ein kleines Zwischenspiel auf dem Proszenium der eigentlichen Hauptbühne. Und dass die DSGVO, und alles, was damit kam, die großen Konzerne und Geheimdienste beim Ausspionieren nie auch nur kratzte, dafür aber Vereine und Schulen vor unlösbare Aufgaben stellte, auch das ist leider wohl wahr. Und machte das Gesetzeswerk schon von Anfang an zweifelhaft und realitätsfremd.
Was mich fertig macht ist, dass ein System, dass seit 2016 unermüdlich den Datenschutzvorschriftklepper geritten hat, das Millionen in Gesetzgebungsverfahren, Fortbildungsveranstaltungen und Powerpointpräsentationen gesteckt hat, nun einfach so tut, als habe es das alles nie gegeben.
Da kann man schon mal den Respekt verlieren.
Wenigstens hätte man die DSGVO, den „Netzbrief 2018“ und wie der Schotter alles hieß offiziell für die Zeit der Schulschließungen aussetzen können. Zur Rettung der eigenen Würde. Und wenn man ein bisschen im Netz herumgooglet (ich glaube so viel digitale Welt schafft auch Herr Mowambo) stellt man fest, dass das bayerische Kultusministerium auf seiner Homepage das andeutungsweise tut. Sehr schwammig und undeutlich.
Nur nebenbei: NRW nervt als Bundesland gerade mehr als Bayern. Hätte ich vorher auch nicht geglaubt.
Gerade war in der Tagesschau ein junger Chemie-Doktorant zu sehen, dessen Promotion irgendwie in Richtung digitaler Chemieunterricht gehen soll. Er frohlockte. Natürlich sei die jetzige Situation für die Student*innen keine gute, aber wenigstens könne er nun diverse Dinge ausprobieren. „Ohne dass ich mich an alle Regeln halten muss.“ Vielleicht meinte er auch nur Sicherheitsregeln bei explosiven oder giftigen Gemischen. Aber es schien mir trotzdem ein passender Kommentar zur neuen digitalen Großwetterlage.
Warum habe ich Idiot bis jetzt versucht die Regeln ernstzunehmen? Und: muss ich das in Zukunft auch bei den geltenden Regelungen zu Geschwindigkeitsbegrenzungen, Drogenhandel und Banküberfällen nicht mehr tun? Oder ist das genau so relativ und situative Verhandlungsmasse wie das Thema Datenschutz an Schulen? Also Drogenhandel und Bankraub wären zumindest finanziell attraktiv.
Ich befürchte, dass wir aus der Krise mit einem gefallenen Datenschutz gehen werden, aber mit funktionierenden automatischen Uploadfiltern. Schöne neue Welt.
Aber: es gibt noch ein größeres Problem. Die Forstverwaltungsämter und unsere 16 Staatsekretariate für Waldwesen, ja sogar das Bundesministerium der staatlichen Holzwirtschaft bestehen, so fürchte ich, aus ziemlich vielen Herrn Mowambos. Die Email kann man mit dieser Frontmannschaft tadellos erklären. Alle danach erfolgten Entwicklungen sind aber eventuell für das Gros des Offizierskorps im mausgrauen Kostüm schwierig zu durchdringen.
Das Projekt „Digitalisierung der Schule“ (vielleicht das Staates) ist das Projekt, einen viktorianischen Dampfer zu digitalisieren, dessen Achterkajüte von einer barocken Galleone stammt und zu dessen Durchführung keine Mittel bereitgestellt wurden. Nach der Rettung der Wirtschaft noch viel weniger als je zuvor. Prophezeiung Ende.
Eine Stuttgarter Schule bittet gerade übrigens händeringend um die Spende von gebrauchten Laptops für ihre Schüler*innen. Damit die online lernen können. Wenn Sie einen übrig haben: Spenden sie ruhig. An diesem Widerspruch wird sich vermutlich nichts mehr ändern, bis das Barock in Pension geht und das 19. Jahrhundert die Brücke an sich reißt.