Tag 46 seit dem Close-Down aller Veranstaltungen, Tag 38 nach der Schließung der Kneipen und Clubs, Tag 43 nach der Schließung der Grenzen, Tag 41 nach dem Öffnungsverbot für alle Geschäfte, die nicht versorgungsrelevant sind, Tag 34 nach dem allgemeinen Gebot, sich maximal zu zweit in der Öffentlichkeit zu versammeln, Tag 8 nach der Wiederöffnung der kleinen Geschäfte.
Ich stehe vor einem weißen Berg, dem legendären Kilimandscharo, dem sagenhaften Cibola mit seinen goldenen Dächern, dem Moby Dick der Corona-Krise: vor mir im Supermarkt türmen sich gigantische Paletten, Frachtgutmengen, LKW-Ladungen von … Klopapier. Die Hamsterkrise ist vorbei, die Begegnung mit dem überreichlichen Toilettenbedarfs-Angebot hat etwas Beruhigendes, Normalisierendes. Im Regal gibt’s noch mehr. Wir wussten immer, dass unsere Produktionskapazitäten sich nicht durch ein paar Kaufrausch-Gorillas in die Knie zwingen lassen. Alles eine Frage der Zeit, bis wir die Panik-Raffer wieder einholen, jetzt gibt’s wieder Kack-Pappe in der Familienpackung und im Sonderangebot, auch die Hefe wird bald zurückkehren. Juhu.
ich wünsche mir ein bisschen bei dem Anblick, dass sich all die Mitbürger, die vor vier Wochen Klopapier, Nudeln und Flüssigseife in Einkaufswagen geschmissen haben, als wären es Banknotenbündel, sich noch ziemlich lange echt dumm und zurückgeblieben fühlen. Am besten ihr ganzes restliches Leben lang. Meinen vor geraumer Zeit ergatterten Vier-Rollen-Vorrat habe ich jedenfalls noch nicht angebrochen, ich lebe noch immer von der letzten Rolle Vorkrisenpapier.
Wo ist dieser Monat hin? Was war mit dem April? Er schlich sich mit der monotonen Eintönigkeit eines langjährigen Zuchthausinsassen durch mein Leben, unauffällig, wie einer, der lebenslänglich sitzt, und der den Wärtern beim im Kreis Schlurfen über den Gefängnishof gar nicht mehr auffällt. Es war doch erst kürzlich der erste, an dem die üblichen Netz-Aprilscherze fast allesamt abgesagt wurden, jetzt ist gleich schon Tag der Arbeit. Ohne Arbeit für viele. Die Ausgangsbeschränkungen halten schon gefühlt ewig an, deshalb rast unsere Lebenszeit unbemerkt an uns vorbei. Und zieht sich dabei.
Gefühlt war der ganze April ein einziger Sonnennachmittag. Gärten und Wälder trocken wie ein in der Wüste verschollener Trinker. Der Klimawandel lässt sich nicht aufhalten, er verwandelt norddeutsche Moore in Asche und brandenburgische Äcker in Staubwolken. Vor einem Jahr haben die Klagen der Agrarwirtschaft bei genau der selben Wetterlage die Nachrichten bis zum Rand gefüllt, im Moment ist die „Dürrekatastrophe“ in der Landwirtschaft und der Natur eine Fußnote. Die Legende vom Frosch auf der Herdplatte trifft halt leider bei unserer Spezies voll und ganz zu, weil die Erwärmung der Erde Millionen Leute über Jahre verteilt töten wird, und das Virus eben in ein paar Tagen, haben wir vor dem einen Angst und dem anderen eben nicht, so einfach ist der Mensch, Bildung hin oder her, gegen seine psychologische Programmierung kann er eben nicht an, dann heißt’s halt sterben. Oder auf Ziegen und Hirse umstellen, lieber brandenburgischer Großbauer.
Täglich rauschen die selben Durchsagen durch Politik und Medien. Sie sind für alle zum liebgewordenen Ritual geworden, das gibt Halt in unsicheren Zeiten: Die Krise dauert noch ewig, die zweite Welle wird womöglich schlimmer, wer zu schnell lockert riskiert alles, wir können unsere Politik nicht nur den Virologen überlassen, die wirtschaftlichen Kosten sind höher als der Verlust an Menschenleben, denkt denn keiner an die Kinder, öffnet endlich die Kitas, seid nicht zu vorschnell, Masken können Infektionsrisiken senken, selbstgenähte Masken sind ohne messbare Wirkung, Masken mit FFP-Klassifizierung sind bevölkerungsdeckend nicht zu besorgen, es gibt keine Maskenpflicht nur eine Mund-Nase-Bedeckungspflicht, es gibt keinen Lockdown nur eine Ausgangsbeschränkung, Modell Schweden, Anti-Modell USA, Modell USA, Anti-Modell Schweden, Donald Trump und Desinfektionsmittelspritzen, der Föderalismus lässt grüßen, Fußball ist wichtig für die Menschen in Deutschland, Armin Laschet, Armin Laschet, Armin Laschet.
Ich kann’s kaum noch hören und greife mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden nach jeder Brexit-Berichterstattung, die ich kriegen kann.
Ach ja, der jüngste Spiegel hat sich auf Lehrer eingeschossen, die mit den aktuellen Widersprüchen zwischen Verordnungslage und Online-Zwang hadern. Sie sind nun, kurz zusammengefasst, technikfeindliche „Luschen“, die sich hinter dem „Datenschutz verstecken“ und ihre Beamtengehälter faul verprassen. Ich finde dafür darf man ruhigen Gewissens die jüngste technikfeindliche Printausgabe der Bild-Zeitung-mit-Spiegel-Logo zusammenrollen und sie den betreffenden Journalist*innen dreimal hart auf den Kopf hauen. Politisch motivierte Dummheit darf auch mal wehtun, vor allem, wenn man sie verschriftlicht und veröffentlicht.
Was mich durch die Tage rettet ist die ehrenamtliche Arbeit im KKT, die mir beinahe einen geregelten Berufsalltag verschafft. Das Projekt, die Bühne ein bisschen gegen Schall zu dämmen, hat sich in eine Großbaustelle verwandelt. Ich bin froh drum. So kann ich an den meisten Tagen gegen 9.30 Uhr ins KKT rollern, bekomme einen Kaffee und dann geht es an Kreissäge, Trennscheibe oder Akkuschrauber. Ich habe nette Menschen um mich, eine FFP-klassifizierte Staubschutzmaske griffbereit und eine Flex in der Hand. Das bringt mich bis jetzt ganz gut durch diese Zeit, von mir aus kann der Neuaufbau der Bühne noch bis August dauern. Denn das Epic Empires wurde jetzt auch abgesagt, nix mit LARP 2020.
Letzte Woche bin ich auf dem Weg den Kessel runter vom Tretroller gestürzt. Jetzt habe ich ein blaues Knie und eine kaum noch spürbare Rippenprellung. Mitte vierzig vom Roller stürzen und einfach weiterfahren können ist ein beruhigendes Gefühl.
Wenn ich nicht Balken zusäge dann zocke ich mich Abends durch den neuesten Teil der Metro-Reihe und bekomme feuchte Augen, wenn ich durch postapokalyptische Wolga-Dörfer ziehe und englisches Voice-Acting mit russischem Akzent höre. Am Freitag wäre mein Ticket von Kasan nach St-Petersburg gültig gewesen, mein Visum läuft im Mai ab. Iskender schreibt mir, die Suche wäre auf staatliche Anweisung hin abgeblasen, sie versuchen es jetzt auf August zu verschieben. Lustig, wenn der russische Staat etwas per Anweisung verbietet, hört sich das für uns hier immer irgendwie undemokratisch an, oder?
Im August hätte ich noch Zeit. Falls die Krise je endet.
Ein Gedanke geht mir seit dem Wochenende immer wieder durch den Kopf. Werden nach dieser bitteren Zeit die Alten den Jungen ein bisschen dankbar sein? Ich meine, die Jugend verzichtet gerade der älteren Generation zuliebe auf ziemlich viel: z. B. Bildung, Jobs und Demonstrationsrecht. Wird der weißhaarige Wasserkopf unserer Bevölkerung nach der COVID-19-Krise in seinem Altersstarrsinn ein wenig zurückstecken? Werden die Alten der Zukunft Europas beim Thema Diesel, CO2, Immigration und Internet-Urheberrecht endlich mal entgegenkommen, weil diese Generation jetzt auf noch mehr verzichtet, als sie ohnehin für den Wohlstand der gegenwärtigen Alten zukünftig schon verzichten muss, um schwerpunktmäßig den Alten das Leben zu retten? Oder wird das Gezeter, das Gekeife, das AfD-Gewähle, sobald man den Impfstoff in der Vene hat, einfach wieder aufgenommen?
Ich bin in meiner Erwartungshaltung bezüglich der Dankbarkeit von etablierten Gruppen ja immer pessimistisch. Preisfrage: Was sind fünf graumelierte, weißhäutige, ältere Männer und eine Frau? Antwort: eine Krisen-Expertenkommission. Das *innen kann man sich hier sparen.
P.S.: Beim Bildbearbeiten merke ich: Der Klopapierberg kommt aus Italien. Irgendwie ironisch.