Die erste Staffel ist geschafft, die komplette Phase von Weihnachten bis Fasching wurden bei uns per Online-Tool Schule gemacht. Morgens länger schlafen, mit der Kaffee-Tasse ans Diensttablet gehen (hat auch nur ein paar Jahre gedauert, bis ich es dem Chef aus den Rippen argumentiert hatte), den Klassencall aufmachen, in der Arbeitsphase Kaffee nachholen oder mal schnell die Spülmaschine aufmachen, nach Unterrichtsende instant nach Hause kommen; Gar nicht mehr nach Hause kommen, weil der Beruf in den Safespace streamt, sich überlegen, wie man das Tablet dreht, damit der Stapel Reisetaschen und Schlafsäcke auf meinem Schrank sich nicht ins Bild wurschtelt, immer gleich ein Popup kriegen, wenn irgend jemand irgend etwas auf dem Herzen hat, einfache Erreichbarkeit heißt ja auch niedrige Hemmschwelle Bullshit zu schreiben.
Vielleicht sollte ich meine Gedanken zum Online-Lernen einmal etwas strukturieren, oder?
Zunächst: Ich verweigere mich Begrifflichkeitskriegen. Für viele mag das ein lustiger Zeitvertreib sein, ich habe irgendwann nach dem Ref gemerkt, dass immer alle drei Jahre neue Leute nachdrängen, die den bisher Rumhängenden mit neu ausgedachten Worten klarmachen, dass sie es im Seminar jetzt echt gelehrt bekommen haben, wie man den new Shit hier reinbringt, bis nach drei Jahren Leute dazukommen, die eben diesen bis-dato-Träger*Innen der Moderne klarmachen, dass sie sich von Anfang an geirrt haben, was man an den von ihnen ausgedachten Worten erkennt, und deswegen in ihrer Tätigkeit an der Schule viel falsch gemacht hätten – kurz gesagt: In meinem Leben gibt es Wichtigeres zu tun als diesem Kommen und Gehen zu folgen. Distanz-Unterricht, Online-Schule, Digitales Lernen, Netz-Teaching, Telekolleg III, Fernlernen, videogestütztes Bildungsangebot – all the same for me. Ich glaube ich werde ganz im Gegenteil versuchen „das Ding“ möglichst farbenfroh und abwechslungsreich zu bezeichnen, alleine im Hinblick auf die Formulierungsschönheit.
Style vor Theorie.
Kurz zu „uns“: Ich arbeite an einer Verbundsschule, frühere Gesamtschule, die Gemeinschaftsschule, Realschule und Gymnasium unter einem Dach vereint. Dort unterrichte ich Deutsch und Geschichte am Gymnasium, momentan Klassenstufen zwischen 6 und 11. Meine Erfahrungen beziehen sich also nur auf diesen konkreten Bildungsrahmen.
Erste Erkenntnis: es funktioniert. Einigermaßen. Ich finde, allen Unkenrufen von Rechts zum Trotz kann man mittels eines Videochats und einer Datencloud ordentliche Bildungsangebote machen, den Lehrplan weiterführen und inhaltliche Ziele und Kompetenzerwerb bei Schüler*Innen erreichen. Es ist natürlich kein 100-%-Ersatz für das Klassenzimmer – alle, die das denken, glauben wohl auch, ein Musikvideo sei das selbe wie ein Live-Konzert. Die Progression verläuft zudem distanziert langsamer. Aber insgesamt kann man so Schule machen und könnte es auch weiter machen, wenn die Gesellschaft in der Ruhe vor der Dritten Welle nicht komplett die Nerven verlöre, was sie wahrscheinlich gerade tut.
Fazit 1: Online-Stunden funktionieren. Prinzipiell. Irgendwie.
Allerdings funktionieren sie je nach Klasse und nach Gruppenphilosophie unterschiedlich gut. Das hängt meiner Erfahrung nach nicht einmal von der Altersgruppe ab. Die Mär, dass Unterstufenkinder mit digitalen Kommunikationsmitteln nicht klarkämen und die Oberstufe quasi instant auf die Distanzschule umschwenken kann – in meinem begrenzten Horizontrahmen tatsächlich nichts mehr als eine Mär. Die 6er können mit Feuer und Flamme die spartanische Gesellschaft diskutieren und erlernen, das Dritte Reich stößt in Klasse 9 auch distanziert auf breites Interesse. Meine 10er in Deutsch – ein Jahr älter – loosen während des Calls ab, ihre schriftlichen Texte sind aber weiterhin ganz gelungen.
Viel heftiger als die allgemeine Altersstruktur wirken sich individuelle Faktoren auf die persönliche Lernleistung aus. Wer sich jetzt organisieren kann und schon in der Lage ist, für sich selbst zu arbeiten, der kommt gut weiter. Wer regelmäßig den Stiefel der Lehrer*In in den Arsch brauchte, um sich zu bewegen, dem wird das Versumpfen auf dem Fleck leider ziemlich leicht gemacht. Letztendlich bin ich nur noch ein zweidimensionales Video aus Farbe und Lautsprechersound und habe damit viel weniger Zugriff auf die Kids, als im Klassenzimmer. Man kann mich emotional wie eine Instagram-Story abhandeln, die man sich aus unerfindlichen Gründen ansehen muss. Immerhin: ganz wenige Fälle tauchen überhaupt nicht zum Unterricht auf, die auch nur in vereinzelten Stunden. Dabei ist Schwänzen so leicht wie nie zuvor, wer „technische Probleme mit dem Internet“ vorschützt, kann von Seiten der Schule nicht überprüft werden.
Ein Knackpunkt scheint für mich das zu sein, was wir im Kollegium als „Kameradisziplin“ bezeichnen: Der Quantor, wie viel Prozent der Klasse sich mit eingeschalteter Kamera beteiligen bzw. hinter einer schwarzen Kachel unsichtbar werden. Bei Klassen, die sich selbst ins Gesicht sehen können, läuft der Unterricht lebhafter, schneller und konzentrierter ab, „blinde“ Klassen bleiben zäh und ohne Biss. Paradoxerweise wird immer wieder geraten, die Kameras auszustellen um Bandbreite zu sparen – nun gut, welche Bildungsqualität die Sparschule bietet, merken wir ja nicht erst seit dem Arbeiten im (unterentwickelten) Datennetz.
Fazit 2: Der Erfolg von Unterrichtsstunden hängt stärker von den Schüler*Innen ab als früher.
In der Gestaltung der 90-Minuten-Blöcke haben Gespräche mit diversen Klassen ergeben, dass eine Sequenzierung mit Eingangsimpulsen, Stoffwiederholung auf der einen Seite, Aufgabenbearbeitung alleine oder in Breakouträumen (mit eher mehr Zeit als früher) und abschließende Lösungsvergleiche mit Diskussion der Ergebnisse von vielen als ganz angenehm empfunden werden. Aufgaben außerhalb des Stundenplans werden laut den Schüler*Innen zur Zeit zu viele gestellt. Insgesamt versuche ich, auch aus Arbeitsbelastungsgründen, eher meinen bisherigen, gut erprobten Unterricht zu digitalisieren als alles über neue Online-Tools unter nicht-europäischem Geschäftsrecht laufen zu lassen. Das Einbinden von Videoimpulsen ist viel einfacher geworden und nützlich. Bilder sind nun plötzlich farbig(!). Noch immer halte ich das Anlegen einer papiernen Materialsammlung als Grundlage zum selbstständigen Lernen für effektiver, als eine Ordnerstruktur in einer Cloud, auch weil unser Gehirn seit 2 Millionen Jahren dreidimensionale, nichtleuchtende Objekte nachhaltiger wahrnimmt als Bildschirme. Schlagt mich ruhig, Digitalisierungselite.
Natürlich kann man alles über Padlet, Wikis, die-neue-App-für-MacOS-für-nur-7-€-kauft-euch-die-bis-Montag machen. Aber ich bin überzeugt, dass das konkrete Medium weniger Einfluss auf den Lernerfolg hat, als inhaltliche Didaktisierungsentscheidungen der Lehrkraft. Allerdings, und da sind wir wieder bei Punkt 2: Wer das Material einfach auf der Cloud liegen lässt, zum späteren Durchklicken, der lernt eventuell weniger gut.
Fazit 3: Man kann seinen Unterricht ganz gut digitalisieren.
Und ja: es gibt Schattenseiten des E-Learnings, die auch allen aufgrund der Endlos-Diskussion um die Schulöffnungen sehr bewusst sind. Es stimmt: Wir verlieren Schüler*Innen, die aufgrund ihrer privaten Situation ohnehin in einer schlechteren Startkategorie stecken, als Elisabeth und Joshua aus dem Doppelverdiener-Ingenieurs-Ärztin-Haushalt im Neubaugebiet. Ihnen mangelt es an technischen Möglichkeiten, an Unterstützung und eventuell haben sie dazu noch Probleme in ihrem Umfeld, die sie vom Lernen abhalten.
Das ist richtig.
Aber: Diese Kinder waren euch immer scheißegal. Seit ich Lehrer bin, waren sie euch scheißegal, zumindest in allen Farben des Spektrums ab Sozialdemokratie aufwärts. Diese Schüler*Innen wurden auch im Präsenzunterricht gnadenlos abgehängt, die Klassenlehrer*Innen haben versucht etwas zu bewegen, eventuell noch die Schulsozialarbeit, aber darüber hinaus hat sie diese Gesellschaft schon seit jeher auf einen Müllhaufen des Vergessens geworfen, wenn sie es nicht aus eigener Kraft durch ihre Schulkarriere geschafft haben.
Es gibt in der derzeitigen Öffnungsdiskussion keinen verlogeneren Diskurs, als um die „sozial benachteiligten Kinder.“ Denn, so prophezeie ich, sie werden, wenn diese Krise einmal ausgestanden ist, wieder keinerlei Rolle für irgendwelche Entscheidungen spielen, so wie Kinder und Bildungswesen die vergangenen 20 Jahre außerhalb von Presse-Blabla keinerlei Wichtigkeit in Entscheidungsprozessen hatten.
Entschuldigung, wenn ich mich hier etwas in Rage rede, aber die Bigotterie der Kultusminister*Innen und die der Eltern von Joshua und Elisabeth macht mich tatsächlich ziemlich wütend. Und die tatsächlich betroffenen Schüler*Innen immer und immer wieder als Öffnungsargument heran zu ziehen, stellt letztendlich nur einen weiteren Missbrauch dieser Gruppen durch privilegierte Schichten dar, einen weiteren Missbrauch von vielen. Ok, komm runter.
Fazit 4: Wir verlieren Menschen. Vor allem aber auch auf der Intensivstation.
Ein weiterer Wehmutstropfen ist, dass mein Unterricht an Big-Data hängt – eine Entscheidung, die viele meiner Kolleg*Innen feiern („aber es funktioniert!“), die ich aber digitalpolitisch als Katastrophe begreife. Ich, als Teil des Staates, verkaufe jeden Tag die Daten unserer Bürger*Innen an einen US-Konzern, der seine dadurch wachsende Marktmacht nutzt, um alle Versuche, öffentliche Daten unter öffentliche Kontrolle zu stellen, immer schwieriger zu machen.
Aber davon abgesehen könnte das Distanzlernen so weitergehen, finde ich. Vor dem Hintergrund der sich abspielenden weltweiten Katastrophe scheint mir der de facto vorliegende Verlust an Bildungsgeschwindigkeit und -mengen absolut vertretbar und das viel kleinere Übel zu sein. Nichts, was man nicht nach überstandener Krise nicht mit Zeit und Geld easy reparieren könnte.
Ich bin mir aber sicher, dass ich über kurz oder lang wieder im Klassenzimmer stehen muss. Zumindest für ein paar Wochen, bis die neuen Virusvarianten hierzulande so richtig reinkrachen und wir wieder in den Online-Unterricht gehen – nur diesmal unter weitaus unerfreulicheren Rahmenumständen.
Wenn Gesellschaften altern und sich ihr Blick nach vorne trübt, geraten sie oft in gefährliche Situationen.