Auf Twitter gibt es einen neuen Trend. Simpel, wenig Aufwand, viele garantierte Retweets und Klicks, geht so: Ich fotografiere als Elter* ein Arbeitsblatt/eine Klassenarbeit meines Kindes, auf dem/der ich irgend etwas bemäkele. Häufig zu Recht. Korrekturfehler, falsche Informationen oder missverständliche Formulierungen kommen ja durchaus vor. Manchmal tut’s auch eine aus dem Kontext gerissene Verfälschung der Zusammenhänge, mach das ruhig, das haut vermutlich hin, du musst nehmen, was die Schule an Gelegenheiten zum öffentlich Werden bietet. Knall das in ein soziales Netzwerk mit hoher Erregungsfrequenz, verknüpft mit der scheinheiligen Bitte um Beurteilung oder Hilfe, formuliere es gerne als „einfache“ Frage, ob man das als Lehrer*In so sagen/bepunkten dürfe. Und dann warte ab auf wieviel K’s Herzchen von empörten Leidensgenoss*Innen du so kommst.
Funktioniert sehr zuverlässig.
Die Gerechtigkeit der Schule liegt den Bürger*Innen im Netz sehr am Herzen. Das merkt man an der sich dann entfalteten Diskussion. Übrigens ist Bürger*Innen an dieser Stelle ganz sozial gemeint und nicht als Rechtsbegriff, die Art der Kommentare, die Orthografie, die benutzten Worte lassen auf eine zutiefst bürgerliche Fanbase dieser „Darf-die-Lehrerin-das-mit-meinem-Kind-machen?“-Rituale schließen. Aber nicht täuschen lassen. Nur weil „Die_Marieke_vom_Dorf“ oder „Kaffeemax“ vermutlich aus einem Reiheneckhäuschen mit einem teuren Smartphone in der Hand twittern, kommt der Hass in den Postings trotzdem von der Straße. Die Entlassung der betreffenden Lehrkraft aufgrund der Bepunktung einer Grundschul-Matheaufgabe zu fordern gehört noch zu den kontrollierten Reaktionen der Bubble.
Gerechtigkeit an den Schulen ist unseren Bürger*Innen wichtig. Extrem.
Vor allem wenn es um Jettes Matheaufgabe oder Hendriks Arbeitsblätter geht. Also innerhalb der eigenen saturierten Schicht. An anderer Stelle wird das Thema Bildungsgerechtigkeit von Max und Marieke auf Twitter eher achselzuckend behandelt. Zum Beispiel hier:
Die Geschichte von Frieder und Annabella.
Frieder und Annabella sitzen in der selben Klassenstufe, bei den Kleinen am Gymnasium. Ihre Lebenswelten könnten aber nicht unterschiedlicher sein. Man sieht das schon am Outfit und das ist nur die unterste Stufe der Trennungslinien zwischen Frieder und Annabella. Frieder kommt meistens im selben T-Shirt und in einer etwas beuligen grauen Jogginghose. Er ist leider ein bisschen dick, vielleicht von Tiefkühlpizzen und den gut-und-günstig-Chips. Man schaut nicht so genau darauf, was er sich aus dem Kühlschrank holt, wenn er alleine ist. Annabella ist selten alleine, das wäre aus der Sicht ihrer Eltern zu gefährlich. Ihr rosa Kapuzenpulli prunkt mit einer sehr stylishen Marke aus dem Netz, aber sie trägt ihn nur heute und vielleicht im Herbst wieder, dazwischen trägt sie ihre anderen Outfits. Annabella ist schlank und sportlich, wird sehr bewusst aus dem Sortiment des Wochenmarkts und des Hofladens im Nachbarort ernährt. Für Biosteaks und Obst ohne Chemie fährt der Vater gerne mit dem SUV ein paar Kilometer am Wochenende.
Frieders Mutter geht zu Fuß zum Aldi, manchmal fährt sie eine Freundin aus dem Block nebenan mit ihrem alten Corsa, wenn sie viel zu schleppen hat. Zum Einkaufen kommt sie eigentlich nur am Wochenende, Wochentags ist sie arbeiten, dann ist Frieder alleine in der Wohnung. Frieder ist inzwischen alt genug, um zu begreifen, dass er arm ist. Weil er etwas dick ist und immer das Gleiche anhat und manchmal morgens ungeduscht in die Schule geschickt wird, sitzt er alleine. Das Verhältnis zu seiner überforderten Mutter ist nicht immer ganz einfach.
Annabella liebt ihre Eltern und die lieben Annabella über alles. Nicht nur auf Sport und Ernährung wird geachtet, sondern auch auf musische Bildung – den Schulen kann man das ja nicht überlassen. Also geht sie nicht nur zwei mal die Woche auf den Reiterhof, sondern auch zur Klavierstunde. Groß weiter gekommen auf dem Instrument ist sie seit der vierten Klasse zwar nicht, aber das Piano im Wohnzimmer macht sich gut, und Annabellas Übungsgestümper ist dann auch wieder nicht so schlimm. Frieder macht keinen Sport, die Vereinsgebühren sind nicht drin. Man könnte Hilfen beim Amt beantragen, aber seine Mutter ist dafür halb zu stolz und halb zu apathisch, und das Amt zu kompliziert in seinen Beantragungsformalien. Aber Frieder hat eine Playstation und wenn die weggeschlossen wird, dann kann er immer noch nachts auf dem Handy zocken.
In einem ist aber Frieder Annabella voraus. Annabella ist nämlich ziemlich dumm.
Das darf man als Lehrer über Kinder nicht schreiben, aber so würde es Frieder ausdrücken und es wäre ziemlich wahr. Annabellas intellektuelle Veranlagung ist in der Tat gering und eingewickelt in ihren kostspieligen Kokon muss sie auch ihren Kopf nie anstrengen und entwickeln. Den Kopf machen sich ja Mum und Dad für sie. Sie beteiligt sich zwar eifrig und selbstbewusst an den Themen, versteht aber wenig und ihre Schlussfolgerungen sind so unbedarft und unlogisch, dass es den Lehrer*Innen Schwierigkeiten macht, zu erkennen, wo ihre Denkfehler eigentlich anfangen. Frieder hingegen ist schlau. Er durchblickt Dinge und kann logische Verknüpfungen bilden. Wenn man ihm einen Text vorlegt, dann durchsteigt er ihn, falls man ihn zum Bearbeiten der Aufgaben bewegen kann. Das geht nur an guten Tagen.
Natürlich hat Frieder große Lücken.
Er kann sich nicht zum Hausaufgaben machen motivieren und hat bei den Aufgaben zu Hause keine Unterstützung. Es ist allen ziemlich egal, ob er sie erledigt oder nicht, das ist bei einem Zwölfjährigen nie gut. Er müsste sich auch erst eine Ecke am überladenen Küchentisch freiräumen oder er beugt sich über den niedrigen Couchtisch vor dem Fernseher. Unbequem. Annabella hat einen schönen Schreibtisch aus Echtholz. Wegen dieser Unterschiede lernt Frieder auch nicht auf Klausuren. Er weiß im Grunde gar nicht, wie man lernt. Annabella hingegen muss ihre Hausaufgaben und Lernaufschriebe regelmäßig Abends vorzeigen, sie wird dann ausgiebig gelobt. Deswegen schreibt sie trotz fehlender Durchsicht auf die Zusammenhänge des Stoffs immer noch Zweibisdreier. Das wird sich ab Klasse 9 ändern, wenn der Anspruch anzieht, aber dann wird für sie eine teure Nachhilfeschule bereitstehen. Frieder schreibt konsequent Fünfer. Er lernt nicht, hat auch keinen nachhaltigen Wissensschatz bisher aufgebaut, er ist eben in der Situation schlau, kann aber nichts weiter Entferntes abrufen.
Frieder wird dieses Jahr sitzenbleiben und dann auf die Realschule gehen. Es ist kaum möglich, dass er seine Wissenslücken noch aufholt, nicht bei seinen Begleitumständen. Die 26K Likes unter dem Korrekturlink fragen an dieser Stelle natürlich unisono und anklagend, was die verantwortliche Lehrerin denn bitte gegen Frieders Schulversagen unternommen habe!1! Natürlich gab es zahlreiche Gespräche mit der Mutter und Frieder, eines sogar nach dem Sommer noch life von Angesicht zu Angesicht, aber Hilfeangebote für sie und Frieder z.B. von unserer Schulsozialarbeit oder der schulpsychologischen Beratungstelle des Kreises, wollte sie nicht annehmen. Man kann auch mit einem Realschulabaschluss etwas aufbauen.
Stolz und Apathie.
Annabella wird Abi machen und in der Welt etwas werden. Was aus Frieder werden wird, ist eine spannende Frage.
Wer sich über Ungerechtigkeit im Schulsystem virtuell aufregt, der fokusiert sich auf einzelne Iphone-Fotos von Klassenarbeiten und Arbeitsblättern. Die bürgerliche Masse versteht ein falsche Mathebepunktung, das soziale System hingegen ist ihr zu abstrakt und als Profiteur der Verhältnisse zudem unangenehm. Und der Hashtag erreicht nach vier Stunden die Trends, dann sehen alle, wie recht wir Empörten mit unserer Wut doch haben. Das ist doch wichtig1!1
Frieder wird von niemanden für wichtig gehalten. Er wird aussortiert, obwohl er intelligent ist, denn wo würde Annabella hinkommen, wenn Unterschichtkinder plötzlich in einigen Jahren Annabellas sozialer Klasse die gut bezahlten Stellen wegnehmen? Die sind für mittelmäßige Menschen aus der gehobenen Mittelschicht reserviert, nicht für Frieders oder Gültazes oder Wladimirs. Die gehören an eine Supermarktkasse.
Ihr jämmerlichen Existenzen.