Gestern, an einem sonnigen Freitagnachmittag. Ich sitze mit einer lieben FreundinslashKollegin an meinem Wohnzimmertisch und wir arbeiten gemeinsam an unserem Kulturprojekt. Dann, gegen 13.30, ein heftiger Knall und gleich danach ein etwas milderer; meine Fensterscheiben zittern kurz. Wir schrecken hoch. Marina, jünger als ich, fragt beunruhigt, mehr als Ausdruck des Schrecks: Was war das? Ich sage ein Wort, dass ich schon lange nicht mehr benutzen musste: Überschallknall. Wir öffnen das Fenster, ich höre den Jetantrieb aus der Ferne. Genau, (nur) ein Überschallknall.

Ich muss vier oder fünf sein. Meine Mama steht vor mir und erklärt mir ruhig und eindringlich, was ein Überschallknall ist. Dass er von sehr schnellen Düsenjägern verursacht wird, dass man davor aber keine Angst haben muss, weil er einem nichts tut. Auch so ein altertümliches Wort „Düsenjäger,“ ein Relikt aus einem früheren Krieg, in dem Kampfflugzeuge in der Regel mit Propellern angetrieben wurden. Im Hof, wenn wir mit den anderen Kindern spielen, gibt es oft den Überschallknall. Immer wenn die Bundeswehr oder die Amerikaner üben. Was sie genau üben, das begreife ich nicht so recht. Das Kinderspiel der vielen Gleichaltrigen aus dem Block verstummt bei dem lauten Knall immer kurz und wird dann wieder aufgenommen. Einmal, einige Jahre später, rast der graue Kampfjet direkt über den Wohnblock, wir können die Maschine von unten ganz genau, wenn auch nur für einen Wimpernschlag sehen. Alle Kinder schreien. Aus Angst. Im Jubel. Vor Staunen.

Ich habe lange die Düsenjäger nicht mehr gehört. Gestern zum ersten Mal wieder bewusst und unmittelbar versetzt es mich zurück in meine Kindheit, in den Kalten Krieg. Die Jüngeren hierzulande kennen das gar nicht, es gibt in Stuttgart an diesem Freitag viele Anrufe bei der Polizei. Auf Twitter und den Lokalnachrichten wird schnell reagiert, beruhigt, erklärt. Die Nachrichten vermelden, der Kampfjet hätte nichts mit dem Ukrainekrieg zu tun gehabt.

Natürlich hat er. Es wird wieder geübt. Im Tiefflug.

Meine Mama erklärt mir auch, was die Sirene macht. Sie sitzt auf dem Dach des rechten Wohnblocks, ein grauer Stahlpilz mit einem dünnen Stengel. Einmal im Jahr ist Probealarm, und meine Mutter versucht mir die Angst vor dem grauenhaften Geräusch zu nehmen, dass dann der Stahlpilz erzeugt. Das Auf- und Abheulen ist der Warnton. Ein langer gleichmäßiger Ton ist Entwarnung. Glaube ich. Ich habe das Geräusch viele Jahrzehnte nicht mehr gehört, ich könnte heute googlen, welche Töne was bedeuten.

Ich will es aber nicht.

Ich werde deutlich vorgewarnt durch meine Eltern, wenn ein Probealarm ansteht, damit ich nicht so viel Angst habe. Was da genau geprobt wird, ich verstehe es nicht ganz, aber es hört sich rein akustisch schlimm an. Also stehe ich da im Hof, versuche tapfer zu sein, halte mir die Ohren zu und kneife die Augen zusammen und sage mir, es ist nicht schlimm, es ist nur ein Probealarm, es geht gleich vorbei. Aber der Probealarm geht ewig, denn er arbeitet sich durch vier oder fünf Signalfolgen.

Ein Freund hat kleine Plastiksoldaten, für den Sandkasten im Hof. Ich darf nur Playmobil und Lego haben, deshalb sind die kleinen Plastiksoldaten für mich ein Sehnsuchtsspielzeug. Es gibt knallgrüne, das sind die Amerikaner, unsere Freunde. Es gibt rotbraune Russen, von denen erzählt auch der Opa manchmal, das sind Feinde. Und es gibt graue, das ist die Wehrmacht, zu wem die gehört weiß ich nicht, aber auch die hat irgendwas mit dem Opa und seinen Geschichten aus dem Krieg zu tun. Mein Opa ist ganz sicher ein Held, der Überschallknall kann mir nichts tun, da muss ich keine Angst haben, heute ist wieder Probealarm, Achim, da musst du keine Angst kriegen.

Gestern habe ich zum ersten Mal wieder einen Überschallknall gehört.

Ich stelle mir seitdem vor, was es in mir auslösen würde, wenn plötzlich im Viertel die Sirenen anfangen zu heulen. In meiner Erinnerung habe ich das Geräusch ganz deutlich im Ohr. Jetzt verstehe ich es aber. Und es macht mir Angst, weil der Sinn hinter dem bösartigen, verzweifelten Schreien des monströsen grauen Pilzes auf dem Dach noch viel beängstigender ist, als der Sound für mich als Kleinkind war.

Die Bundeswehr kriegt hundert Milliarden. Der Bildungssektor wird also viele Jahre weiter vernachlässigt werden. Ich frage mich, was uns funktionierende Kampfhelikopter angesichts des Sinns hinter dem bösen, grauen Heulen nützen würden.

In ukrainischen Städten heulen die Sirenen jetzt schon jede Nacht, während ein bösartiger, unberechenbarer Autokrat zivile Wohnviertel mit thermobarischen Raketen angreift und er von unserem Heizungsgeld Panzer in Richtung eines souveränen, demokratischen Staates ausschickt, jedenfalls demokratischer als das Putin-Regime. Auch ukrainische Kinder haben sicher Angst vor den Sirenen, aber vor allem, weil danach tatsächliche Geschosse einschlagen, töten, zerstören, terrorisieren.

Jeder Cent, den wir Putin bezahlt haben, ist eine Waffe, die sich gegen uns richtet. Jeder Cent ist ein Angriff auf die demokratische Idee und die Menschlichkeit. Bis jetzt konnten wir uns rausreden, dass wir das alles nicht geahnt hätten. Es ist wie immer eine schwache Ausrede, die komplette Dummheit der Verantwortlichen im Nachhinein aufdeckt, aber immerhin gibt es noch eine Ausrede. Ab jetzt wissen wir, dass diese faschistoide Diktatur keinen Cent mehr bekommen darf, der ohnehin nur in Waffen gegen die Menschenrechte gesteckt werden wird.

Ich habe zwei Tage nach dem Überfall meine Heizung abgestellt und werfe sie nur noch an, wenn Gäste kommen. Lieber friere ich mich durch einen grauen, kalten Vorfrühling als dass ich noch einmal in meinem Leben die Sirenen heulen hören muss.

Ich habe Angst. Aber keinen Zentimeter dem Faschismus.

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