„Ist heute nicht eigentlich schon der erste Schultag?“ fragt mich Ralf, der mir seit zwei Jahren die Haare schneidet. Ralf weiß natürlich, dass ich Lehrer bin, und seine Frage ist wahrscheinlich nur neugierig gemeint. Aber in meinen Ohren klingt sie tatsächlich wie ein gewisser Vorwurf: Was machst du hier morgens um 8.00 beim Friseur und warum bist du nicht bei deinen Schülern?
Tatsächlich war er heute gekommen, der große Tage, der Diaz Ultima, der magnum tempus, ab heute beginnt das Sabbatical zwar nicht amtlich, aber praktisch. Heute morgen stehen alle anderen bereit und erklären irgendwelchen Gören, welchen Ordner sie brauchen, wie viele Tests geschrieben werden und wie viel Prozent die Unterrichtsnote zählt. Hektisch werden vor der ersten Stunde Kaffees herausgelassen, Postwurffächer ausgeräumt und Willkommen-zurück-Gespräche geführt, sich hinter vorgehaltener Hand über Stundenpläne beschwert, Tafelstifte entstaubt und Sitzplätze neu bezogen. Nur ich, ich bin nicht da.
Ich fühle mich ein bisschen schlecht dabei.
Ja, jetzt ist es angekommen, das schlechte Gewissen, das halb scherzhaft schon vor den Sommerferien durch die Gespräche und Verabschiedungsriten mit dem beruflichen Freundeskreis geisterte: Achim, du Kameradenschwein, lässt uns einfach mit der ganzen Scheiße hier allein.
Im Grunde fühle ich mich ein wenig wie ein Deserteur. Es gab gute Gründe die sogenannte ganze Scheiße erst mal hinter sich zu lassen und sich aus der Schusslinie zu nehmen, völlig richtige Entscheidung, aber trotzdem, die Pflicht, die anderen, meine Schüler*innen, alle-die-jetzt-das-alles-weiter-machen-müssen …
Warum beginne ich das Freistellungsjahr nicht mit einer rosaroten Wolke aus Glücksgefühlen, regenbogenfurzenden Einhörnern und kleinen Engelchen, die mir halleluja-singend um den Kopf flattern? Warum fühle ich mich versucht, auf Ralfs harmlose Frage defensiv zu reagieren?
Gut, zum einen wird mich niemand erschießen, wenn ich zurückkehre, das unterscheidet mich vom Desserteur. Zum anderen frage ich mich, ob ich vielleicht-eventuell nach sechs Wochen Kinder und Jugendliche ein wenig vermisse. Wäre nicht ungewöhnlich. Eigentlich stehe ich ganz gerne vor Schulklassen, was an Schule nervt und was an Schule hierzulande schiefläuft sind nicht die Kids, sondern Eltern, Kolleg*innen, Strukturen, Hierarchien, Verordnungen, Politiker*innen, Bildungsideologien und Ämter. Aber die Jugend von heute – immer wieder ein angenehmes Gegenüber.
Andererseits: Wenn ich in 10 Sekunden tippen spontan so viel dummen Shit im Pädagogenalltag aufzählen kann, warum bin ich nicht happy wie ein Schwein im Eichenwald, dass ich diesmal nicht hin muss? Ist es dieses treudeutsche Pflicht-Gen, das einem von klein auf eingeimpft wird, mir als Beamtenkind ganz besonders, der deutscheste aller Moralsätze: Man verlässt den Schützengraben nicht bevor alle tot sind? Man hält aus? Man bleibt kameradentreu bis zum Schluss – und wann Schluss ist bestimmt die Generalität?
Was es auch sei: Ich fühle mich an diesem ersten Schultag für alle anderen armen Schweine zunächst ein wenig seltsam.
Kann ich mich ja schon mal auf das erste Pensionierungsjahr einstimmen.
Jedenfalls beschließe ich mit frisch gekürztem Haarschnitt und ausgiebiger Aufklärung Ralfs über das System des Freistellungsjahrs mit Ansparphase mich zunächst mal mit einer Zeitung in ein Kaffee zu hocken. So machen das nämlich brave Rentner. Vor einem gewaltigen türkischen Schokohörnchen wird mir schon ein wenig wohler zumute. Geil, ich kann heute vor einem medientechnisch völlig überholten Stück Printmedium Kaffee saufen und muss nicht ackern. Oder mir anhören, was Kollegin X Anfang August in Nepal erlebt hat (nämlich eigentlich nix außer Berge und Essen, sie fand’s aber trotzdem toll). Oder mich fragen lassen, wie meine Ferien waren.
Schon nicht ganz so schlecht.
Und dann habe ich ja auch gar keinen sinnlos unbeschäftigten Morgen, nein, heute wartet ja der erste Schritt zum Projekt: Tue Gutes.
Und zwar ab 10.00 beim Kulturkabinett Bad Cannstatt e.V., einem Kulturverein, der auf der Stuttgarter Freiwilligenbörse nach einer ehrenamtlichen Thekenschlampe für abendliche Veranstaltungen sucht. Passt auf mich.
Heute morgen hat der Verein, der in einem ziemlich coolen alten Cannstatter Hinterhaus sitzt, große Eintütaktion, das heißt, dass für das kommende Quartal Briefe mit Spielplänen und Flyern raus müssen, und irgend jemand muss diese Briefumschläge ja füllen.
Also sitze ich nach einer kurzen, sehr sympathischen Hausführung an einem langen Tisch und schiebe einen bestimmten Werbemittelmix in einen Umschlag. Eigentlich unterscheidet diese Tätigkeit sich gar nicht so groß von vielen meiner beruflichen Aufgaben: als hochqualifizierter, intellektuell zugedröhnter Hochulsabsolvent simple und unterfordernde Arbeiten mit tonnenweise Papier durchzuführen. Ironie des Schicksals: In meiner Funktion als Kulturheini habe ich an der Schule pro Woche etwa 5 solcher Infoschreiben von irgendwelchen Kulturanbietern ungeöffnet im Altpapier versenkt. Aber nun büße ich ja dafür, und das Büßen ist gar nicht so schlimm.
Mir gegenüber sitzt ein Theaterpädagoge, links von mir eine esoterisch angehauchte Seniorin, schräg gegenüber ehemalige Weinkönigin und Amateurtheaterfrau, etwas weiter eine türkische Mama (könnte auch pakistanisch oder kurdisch sein, ich habe nicht nachgefragt), ein Handwerker, dann noch mehr Theaterleute, eine Musikhochschulabsolventin – im Grunde ein Umfeld, mit dem ich sofort Themen habe und das ich im Umgang als angenehm empfinde. Weil: Locker. Im Gegensatz zu Eltern, Kolleg*innen, Strukturen, Hierarchien, Verordnungen, Politiker*innen, Bildungsideologien und Ämtern.
Um es kurz zu machen: ca. 200 Briefumschläge weiter weiß ich, dass ich großen Bock hätte, bei denen mal vor den Vorstellungen die Bar zu managen (Hey: Ich und Bar – soooo! *presst Zeige- und Mittelfinger fest zusammen und hält sie vor sein Gesicht*). Und weil der Verein gerade renoviert und versucht weitere Räumlichkeiten im Hinterhaus für die Nutzung als Kulturverein herzurichten, melde ich mich auch gleich noch als Renovierungshelfer an. (Weil: Ich und Akkuschrauber – soooo!)
Als ich kurz vor eins heraus laufe ist das dumme Gefühl des Deserteurs verschwunden. Ich renne ja nicht nur weg, ich renne wohin! Also: wohin genau – mal sehen. Aber ich bin mir sicher, es ist in meine Richtung.
Zuhause setze ich mich an ein wohlverdientes Mittagsvesper, schließlich habe ich ja morgens gearbeitet.
Lustig: Ich war heute ziemlich genau von 8.00 bis 13.15 unterwegs.
Hihi. Du kannst das mit dem Ausruhen einfach ECHT schlecht, was? 😉 Klingt aber sehr cool, der Verein, ich hoffe du hast viel Spaß da. Das mit dem Kram, der an der Schule nervt, klingt bei meinem Vater immer sehr ähnlich. Der führt ja seit Jahren Kriege mit dem Kultusministerium und der Schulbehörde.
In Ruhe frühstücken können ist jedenfalls echt was wert, find ich. 🙂
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