Protokoll einer Nacht
18:00
Das Lager ist aufgeschlagen. Ich habe den Platz tatsächlich von der Abzweigung von der Bundesstraße gefunden, dort wo es zum zerstörten Dorf Beaumont abgeht am Pfefferrücken entlang, dann kann man rechts in die „Ravin de la Charbonière“ abbiegen, was ich als „Köhlerschlucht“ verstehe. Mein Übernachtungsrucksack ist wesentlich schwerer als mein sonstiger Exkursionspack, ich hätte ihn gewogen, wenn ich eine Waage hätte, aber da stecken alleine drei Liter Wasser drin, ein Edelstahlkochset, Schlafsack, Unterlage, ein halber Liter Milch … ach ja, und dieser Laptop, auf dem ich gerade tippe. Von der Stelle, an der man das Auto stehen lassen muss, sind es laut Google etwa zwei Kilometer bis zur Köhlerschlucht.

Ich bin nun relativ stolz, dass die Planung bis hier hin aufging. Ich war in der Lage, das schwere Ding in den Wald zu schleppen, es fiel mir sogar weniger schwer, als ich dachte. Den Einstieg in die Ravin habe ich sofort wieder erkannt und auch meine Erinnerung an den Abhang trügte mich nicht: Wunderschöner, offener Buchenwald, den Hang hinauf ist man vom Fußpfad schon nach kurzer Zeit nicht mehr zu entdecken. Punktuell haben die Franzosen nach der Rückeroberung mächtigere Erdwerke angelegt, zwischen den Gräben sollte sich ein schönes, ebenes Plätzchen finden lassen.
Es fand sich.
Nun scheint die Abendsonne durch die Stämme, der Wind rauscht sacht und ich sitze hier mit einem Datenknecht und fange ein wenig an zu protokolieren. Um es kurz zu machen:
Ich werde auf dem Schlachtfeld von Verdun übernachten.
Hier, und mutterseelenalleine. Ja, ich weiß was ihr denkt.
Ich habe auch die Umgebung abgesucht, keine Spur von Wildschweinsuhlen, dafür aber ein Blindgänger in etwa 30 Meter Entfernung. Jemand hat ihn schön orange angesprüht, er leuchtet in fröhlichen Farben in der Abendsonne, und ich denke, mit 30 Metern Abstand wird er mich als Genossen für eine Nacht tolerieren.
Meine Iso-Matte ist bereits Probe gelegen. Ja, alle Natur-Verklärung beiseite, eine Nacht auf dem Waldboden, das wird kein Spaß. Aber für einen Waldboden liegt sichs nicht schlecht, mein Kopf ruht leicht erhöht am Buchenstamm hinter mir. Füße vorraus ist auch eine Buche, Tja, wenn ich jetzt eine Hängematte hätte. Hab ich aber nicht, nur Isomatte(n) und Schlafsack. Im Halkreis läuft ein alter Schützengraben um mich herum, sonderlich tief ist er nicht mehr – siehe Skizze. Ich als Stadtdepp halte den Ort für einen tollen Lagerplatz.

Auch der Holzverbrenner ist aufgestellt und zwar auf einer Kalksteinunterlage. Ja ja, ehrlicherweise ist Campen und Lagerfeuer auf dem Gelände des ehemaligen Schlachtfeldes streng verboten, aber ich campe ja nicht, ich penne ohne Zelt unter einem Baum, und auf den Schildern ist immer ein durchgestrichenes Lagerfeuer und kein Edelstahltopf mit brennenden Ästen. Aber ich fürchte eine juristische Diskussion mit einem Forstbeamten werde ich so nicht überstehen, und zwar nur in zweiter Linie wegen meinem miesen Französisch. Allerdings: Hier kommt keiner vorbei. Ganz sicher. Es kommt abseits der Denkmäler und Museen nämlich nie einer vorbei.
18:14
So langsam wird es Zeit für das zweite Wagnis des Outdoor-Abenteuers. Abendessen kochen im Wald. Alles instant, also sollte es kein Problem sein. Ich muss nur Wasser zum Kochen bringen, und laut Netzauftritt des Anbieters ist der kleine Holzbrenner darin super. Wir werden sehen.
19:00
Der Feuertopf macht heiß wie Hölle, auch wenn er ziemlich hungrig nach kleinen Stöckchen ist. Ein halber Liter Wasser kocht nach drei Minuten – wow. Die Käsenudeln aus der Instanttüte wurden wegen der Gewichtsersparnis gewählt – und schmecken entsprechend. Ich hatte kurz mit der Idee gespielt, eine Dose mitzunehmen, aber Gewicht und Umfang sprachen dagegen. Etwas Salz wäre noch von Seiten der Instantkäsenudelnfirma eine gute Idee gewesen. Egal, für meine ersten warme Mahlzeit im Wald war das gar nicht schlecht.

Langsam schwindet das Licht. Ich suche lieber noch mehr Hölzchen, bevor es zu dunkel ist. Das geht bei Tageslicht besser.
19:38
Problem 1: Käsenudelgeschirr ohne Seife reinigen. Das wird nix, es wird käsig bleiben bis ich wieder in gesittete Gefilde komme. Darüber hinaus ist das Alukochgeschirr natürlich auch rußig, das liegt in der Natur der Sache. Also habe ich käsige und rußige Hände. Ich werde bis morgen stinken, dass es dem Ersten Weltkrieg graust.
Langsam wird es dämmrig. Zwischen den Blättern leuchten zwar noch ein paar Wolken golden zwischen dem Blau herab, aber hier, an meinem Graben, ist es schon einigermaßn duster. Und sehr still. Ab und zu scheppert mein Handy – Kollegen schreiben aus der Zivilisation und betreiben ganz normale Donnerstag-Abend Konversation. Manchmal schreibe ich zurück. Ich finde es irgendwie reichlich absurd.
Wenn die wüssten, wo ich hocke und was ich tue.
Regelmäßig ein Stöckchen ins Feuer stecken nämlich. Ich glaube jetzt reicht der Vorrat. Gegen später gibt’s noch Nachtisch, Experiment Nr. 2: Grießbrei-kochen im Wald.
20:00
Jetzt ist es schon ziemlich dämmrig und der Wald erwacht. Irgend etwas hat in gar nicht so weiter Ferne gebellt. Und dann etwas produziert, was wie ein wütendes Rülpsen klang. Bis jetzt rede ich mir ein, es sei wohl ein Fuchs. Ich habe mal gelesen, dass die „kläffen.“ So wird’s sein.
Werde ich heute Nacht überhaupt schlafen können? Meine Sinne sind bereits jetzt ziemlich gespannt, ich scanne jedes Geräusch aus der Dämmerung. Es ist jetzt auch kühler, die Wärmejacke und das Mützchen ist an, und die Stirnlampe habe ich auch auf.
Für alle Fälle.
Ich glaube, ich versuche jetzt einen Grießbrei zu kochen. Das lenkt mich von den Geräuschen eventuell ab.
20:07
OK, das war jetzt definitiv ein hohes, langgezogenes Quieken. Irgendwo in der Nähe sind Wildschweine. Shit, Wölfe wären mir genehmer, liebe AfD. Hoffentlich mögen die Viecher mein Feuer nicht. Und gehen bald woanders hin.
20:23
Perfekter Griesbrei, liebe Firma Hier-deutsche-Traditions-Pudding-Firma-einsetzen, und klumpte nur ein kleines Bisschen. Da ein halber Liter etwas viel ist, habe ich nur die Hälfte angerührt, so habe ich noch eine schöne frische Portion zum Frühstück. Falls ich eins brauche.
Das Schweineproblem scheint sich von rechts nach links und weiter hinter mich bewegt zu haben. Seit einigen Minuten ist es wieder völlig still. Ab und zu Verkehr ganz entfernt von der Bundesstraße nach Verdun, aber auch da ist nicht mehr viel los. Und zappendunkel außerhalb meines winzigen Feuerkreises.
Könnte wenigstens ein Käuzchen mal rufen? So weil’s dazu gehört?
Jetzt habe ich Harndrang und müsste zum Strullen ein wenig ins Dunkel, weg vom kleinen Feuer. Soll ich? Feigling.
Und da ist es: 20:28, ein Käuzchen. Geil. Ganz schön unheimlich.
Scheiße, ich muss wirklich pullern. Mann, sind Sie eine Memme, Herr Abenteurer.
20:44
Unglaubliche Begegnung. So ein Feuer macht nicht weit hell. Gerade raschelt es extrem verdächtig wirklich ziemlich nahe gerade aus. Ich klicke die Stirnlampe an. Zwei grüne Augen leuchten tief am Boden zurück.
Ein Dachs, ganz nah.
Er linst noch drei Sekunden neugierig in meine Richtung und wieselt dann relativ elegant weg. Alleine für diesen Moment hat sich der Blödsinn gelohnt.
21:22
Es war jetzt lange Zeit sehr, sehr still im Wald. Nun hat sich ein komischer Kauz im Baum über mir eingenistet und produziert dort ein ständiges Quietschen irgendwo zwischen Wellensittich und Katze. Vielleicht ist es auch die Blair Witch, wer weiß. Jedenfalls hoffe ich, dass der nächtliche Sänger sich dann demnächst einen weiter entfernten Baum sucht. Er nervt.

Ansonsten beschäftige ich mich damit, ins Feuer zu starren und es gelegentlich zu füttern. Es ist erstaunlich, wie lange man das tun kann und wie sehr einen die Tätigkeit erfüllt. Vermutlich gehört es mit zu den ältesten Dingen, die Menschen schon immer getan haben: nachts, in der Dunkelheit, in ein Feuer zu starren. Und ins Dunkel lauschen. Und Holz beim Vergehen zusehen.
Kämen nicht Nachrichten aus dem Irish Pub in Ludwigsburg hier an, ich wäre aus der Welt gefallen.
21.32
Soeben haben sie mich in 15 Meter Abstand passiert: 2 Bachen und 1W6 Jährlinge. Irgendwie scheine ich doch den Sauwald erwischt zu haben. An Schlaf ist so natürlich nicht zu denken. Wenigstens schienen sie großen Respekt vor mir zu haben und schlichen sich durch den Lichtkegel. Ich lass mal das Feuer noch eine Weile flackern, Holz habe ich.
Am Ende ist das hier irgendwie ihr Lieblingskackplatz, und ich sitze drauf.
Die gute Nachricht: Der rappende Piepskauz ist weg.
21.56
Jetzt röhrt auch noch ein Hirsch in der Nähe. Sehr nah und sehr laut. Ach je, wann wage ich mich ins Bett? Nie?
22.18
So, ich wage es jetzt. Jetzt ist alles wieder ruhig, hoffentlich bleibt es so. Ich ziehe nun meine Schuhe aus und schlüpfe in den Schlafsack. Die Stirnlampe bleibt aber auf der Rübe, damit das klar ist.
Die guten Nachrichten: Es ist warm und es scheint keine Mücken zu geben. Nicht, dass ich nicht vorbereitet wäre.
Bei allem Durchgangsverkehr hier umfängt mich dennoch innerlich und äußerlich eine große Ruhe. Es herrscht hier gefühlt viel Frieden, auch wenn ich natürlich weiß, das gerade 1000 Nachträuber da draußen irgendwelchen anderen Tieren nachstellen. Ich bin gerade ziemlich froh, bekloppt zu sein und mich auf diesen Tripp begeben zu haben. Auch wenn ich natürlich bescheuert bin.
So, Rechner aus. Ich lass jetzt alle dummen Sprüche in Richtung „kein Morgen“ und so.
6.30
Es wird hell. Was für eine Nacht.
Ich war zu müde zum Protokollieren oder die Kiste noch einmal hochzufahren, wenn etwas passiert. Aber es waren ereignisreiche und durchaus aufregende Stunden.
Die ganze Nacht röhrten die Hirsche in den Wäldern von Verdun. Ein archaischer Laut, der irgendwie klingt, als wären die Saurier nicht einem Komenten zum Opfer gefallen. Aus der Ferne ist es ja ganz romantisch, die Riesenviecher singen zu hören. Gegen 1.30 Uhr ist der Hirsch aber hier im Waldstück, und bewegt sich von Rechts im Halbkreis um mich herum. Und er ist laut. Sehr laut. Ich traue mich aber nicht die Lampe an zu machen. Warum eigentlich? Dann klingt es so, als würde der Hirsch minutenlang einen Baumstumpf mit seinem Geweih bearbeiten. Faszinierend. Was macht er da? Gegen später zieht er von dannen, röhrt regelmäßig und bekommt Antworten von den anderen Hügeln des Höhenzuges.
Es ist hell in diesem Wald. Ich hatte nicht recherchiert, dass heute Vollmond ist, und der Effekt ist atemberaubend. Das Mondlicht wirft silberne Flecken durch das Blätterdach und taucht die Baumstämme in ein unwirkliches Licht, da wo er durch die Lücken scheint. Das ergibt eine Szenerie wie in einem Hollywoodfilm der Schwarzweiß-Ära, wie gemalt der nächtliche Wald, man kann den Effekt kaum beschreiben. Ich kann locker die Uhr ablesen.
Bis der Mond untergeht. Dann ist es wieder zappenduster.
Gegen 3.30 Uhr saugt irgend etwas vor mir, ca. 15 Meter, prüfend die Luft ein. Das schnaubende Geräusch macht mich in einer Sekunde hellwach und ich greife zur Lampe. Das ist viel zu nah und dieses Geschnüffel gilt definitv mir. Natürlich steht sie da im Lichtkegel und wittert mich an: Eine Bache. Und diesmal sieht sie nicht so aus, als würde sie ängstlich weiter schleichen, diesmal checkt sie mich ab: Mal sehen was der Typ so drauf hat. Das ist nicht gut. Das Tier merkt an meinem Lichtkegel, dass ich weiß, dass sie da ist, trippelt einige Meter nach rechts, dann wieder nach links und fixiert mich. Wenigstens scheint sie meine Fähigkeit, sie anzuleuchten zu iritieren, aber von abhauen ist da keine Spur. Sie produziert Geräusche, die ich nur als „missbilligend“ beschreiben kann und schnüffelt mich an. Was soll ich tun?
Ich beschließe Feuer zu machen. Glücklicherweise habe ich den wirklich ungesunden Grillanzünder dabei, der weiße, der so ekelhaft nach Benzin stinkt. Ich werfe ein paar große Stücke in den Feuertopf und erzeuge damit sehr schnell eine hohe Flamme, die ich sofort mit Stöckchen aus meinem Vorrat füttere. Das scheint sie zu überzeugen, dass es besser ist, den liegenden Menschen in Ruhe zu lassen.
Die Sau verzieht sich, Uffz, gut so.
Im Hintergrund höre ich das Getippel und Quietschen von ein paar anderen. War wohl eine Art Kundschafterin, hoffentlich kommen sie nicht in einer Stunde zurück und schauen nochmal nach mir. Aber das war definitiv die dramatischste Begegnung der Nacht.

Von vier bis sechs war es im Wald tatsächlich totenruhig. Und ich schlafe tatsächlich ein bisschen, wenn auch eher oberflächlich. Auch um halb sieben ist es unter den Blättern noch ziemlich dunkel, aber der graue Himmel spitzt durch. Leider ein wolkiger Morgen hier in Ostfrankreich.
Ich habe die Nacht überstanden – Hurra. Es war ein echtes Abenteuer. Richtig Angst hatte ich glücklicherweise nicht, aber holla, das Wildleben hier!
So. Zeit für Kaffee.
7:10
Hmmm … Kaffee. Eigentlich ist es eine ziemliche Instantplörre, aber meine Lieblingkollegin sagt ja sowieso, dass ich vor allem Kaffeeplörre trinke. Ich finde meine Plörre hier heute morgen richtig geil.
Eben, als ich den Ofen angeheizt habe, hat es schon wieder im Abhang links von mir ganz verdächtig geknackt und gehuscht. Ich glaube, ich lagere wirklich in ihrem Wohnzimmer. Aber Feuer mögen sie nicht, nimm das von der dominanten Spezies, du Sau.
Lasst mich noch ne Stunde in Ruhe, Leute. Danach seht ihr mich nie wieder, ok?
Zweiter Teil der haute cuisine de ravin de la charbonière: Grießbrei-Frühstück.
7:32
Ich habe es geschafft die heiße Milch vom Feuertopf auf den Boden zu schmeißen. Gottseidank am Wanderschuh vorbei. Aber der unersetzliche Verlust schmerzt.
Geht Grießbrei auch mit Wasser? Was würde Bear Grylls in dieser Situation tun?
7:47
Na ja, mit Milch schmeckt’s besser. So ein warmes Griessüppchen am morgen ist aber immer noch was Feines.

To Do:
Kaffee trinken
Kacken gehen
Feuer ausbrennen lassen.
Ganzen Kladderadatsch zusammenpacken. Und zwar so, dass er wieder in den Rucksack geht.
8:11
So, ich habe wieder Schuhe und Jeans an. Jetzt kommt der blöde Schlepptop in den Rucksack und dann zurück. Am Auto wartet ne Zahnbürste und ein frisches T-Shirt.
Was für ein Erlebnis. Ich kann mich lange nicht an so eine aufregende Nacht erinnern. Ob mir wenigstens jetzt ein bisschen die Düse geht? Ein bisschen. Wenn diese Sau noch selbstbewusster geworden wäre …
Aber: Ich würde es wieder tun. Obwohl mich alle für völlig bekloppt halten. Der Wald bei Nacht ist ein faszinierender Ort. Ich hätte nie gedacht, dass so viel hier passiert. Mal zuhause reflektieren.
19:15, wieder in der Wohnung
Ich bin noch immer ziemlich geflasht und konnte mir auf der Heimfahrt ein Grinsen nicht verkneifen. Das war alles irgendwie schon cool. Als Stadtmensch ist man so viel unmittelbare Natur nicht gewohnt, und wenn man ehrlich ist, dann kennen sich Leute, die „auf dem Land leben“, auch eher mit Baumärkten, Aufsitzmähern und dem jährlichen Dorffest aus, als mit dem Wald.
Obwohl die Planung eigentlich ziemlich geklappt habt, würde ich im nachhinein sagen, dass mein Lagerplatz ein Fehlgriff war. Wäre ich ein besserer Waldläufer, Indianer, Bushcrafter, dann hätte ich wohl merken müssen, dass sich in der Ecke nicht nur Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, sondern die komplette „Was-ist-was-im-Wald“-Auflage.
Eigentlich wollte ich das machen, um diesem besonderen Ort noch näher zu kommen. Das ist wohl so transzendent, wie ich werden kann: Der Versuch, mir einen Platz, der mich fasziniert, durch Übernachtung noch stärker anzueignen. Und dann habe ich mich nur mit Feuer und Tieren beschäftigt. Null Geschichte, nur Natur. Hätte mir auch im Bayerischen Wald passieren können.
Und dann geschieht etwas auf dem Rückweg, das ich eigentlich nicht für möglich gehalten hätte. Da mein Rucksack nun leichter ist und der Wald so schön offen und unterholzfrei beschließe ich neben dem Weg zurück zu gehen, jedenfalls bis dieser niedrige, zugewucherte Scheißwald beginnt, aus dem so viele Flächen des Schlachtfeldes bestehen. Und dann kuckt etwas am Rande eines Trichters aus der Erde, das ich zunächst für ein Stacheldrahtelement halte, wie man es hier ständig findet. Irgend so ein Metallpfosten.

Ist es aber gar nicht. Es ist ein Gewehrlauf.
Nun, man darf hier schon einwenden, das ich bis dato alles Mögliche aus dem Krieg gefunden hätte: Patronen, Blindgänger, Essgeschirre, Weinflaschen, Gasmaskenfilter, Handgranaten, Kochtöpfe, Feldflaschen, Porzellanisolatoren, Stiefelsohlen, halbe Pferdewagen …
Ich hätte aber nie gedacht, dass ich über ein Gewehr stolpere. Noch dazu knappe 20 Meter abseits vom Weg. Nach dem Krieg hat man die Schlachtfelder von übrig gebliebenen Schusswaffen einigermaßen befreit, weil sie einen gewissen Wert darstellten. Oder jeder französische Bauer eine Umsonst-Flinte sein eigen nennen wollte.
Deswegen ist der Karabiner ein sensationell seltener Fund, zumindest als Oberflächenfund. Natürlich musste ich ihn vorsichtig aus der Erde holen, ich konnte nicht anders. Natürlich ist es nur ein rostiges Stück Rohr mit festgefressener Mechanik und der selben braunen Farbe wie alles Alteisen auf dem Gelände. Und natürlich habe ich ihn da gelassen, in diesem gewaltigen Freilichtmuseum für ziemlich Unerschrockene.

Aber der Militärkarabiner ist auch so etwas wie ein Symbol für diesen ganzen Krieg geworden. Und wie der Lauf dort am Rande des Trichters herausragte, wie im künstlich erstellten Denkmal des tranchée des baionnettes auf dem zentralen Gedenkfeld, stellt sich unwillkürlich die Frage: Wie kamst du hier hin, Knarre? Liegt die arme Sau, die dich zuletzt in der Hand hatte, eventuell ganz in der Nähe, unter meinen Füßen?
Es ist doch kein Wald wie jeder andere. Und ich muss am Ende des Tages der missmutigen Bache ganz recht geben. Eigentlich gehören wir nicht mehr ganz in diese Wälder, wir sind nur Tagesgäste.
Außer man ist ein bisschen bekloppt.
Die Nacht im Wald, nun gut, kenn ich. Aber es ist faszinierend, wie viele unbekannte Geräusche es auf einmal gibt, nicht wahr? Der leise Dachs übrigens: Überraschend. Denn normalerweise machen der (und der Igel) am meisten Krach! Wildsauen, na ja, hatte auch schon einschlägige Erlebnisse mit unterschiedlichen Ergebnissen. Aber welche Jahreszeit war das noch mal? Denn in der Hirschbrunft würde ich so ohne weiteres nicht im Hirschwald schlafen. Die Burschen forkeln tatsächlich den einen oder anderen kleinen Baum, weil sie sich ja irgendwo abreagieren müssen. Die sind voller Hormone, Adrenalin nicht zum Wenigsten!
Aber zum Schönen: wir Menschen sind doch toll. Tatsächlich sind Truppenübungsplätze, Reaktorunfallplätze, aufgrund des Schlachtengedenkens ungenutzte Plätze die letzten, die eigentlichen Naturschutzgebiete, in denen Wildsau, Hirsch, Pilz und Baum machen dürften, was sie wollen. Sonst schaffen wir es ja nur, ein paar Schilder über die diversen Verboten anzunageln und mit der sogeannten Waldwirtschaft einfach weiterzumachen.
Und was wäre da besser als die Blutmühle von Verdun geeignet? Viel zu wenige erinnern sich daran, dass es üblich war, dass alle paar Jahre, jede Generation mindestens einmal, Deutsche und Franzosen (ja, die Erben des Frankenreichs halt. Und die beiden Schlächter des Mittleren, des Reichs von Lothar) aufeinander losgehen mußten, wollten, bestimmt waren. Unter Teilnahme möglichst vieler Anderer.
Witzigerweise sind wir schon in einer Vorbereitungsphase: die jungen Menschen verstehen zum größten Teil nicht mehr, was der eigentliche Sinn der EU ist. Genau das vermeiden nämlich. Koste es, was es wolle.
Siegen die scheinbar und nur in ihrem Haß auf alle halbwegs Vernünftigen verbündeten Parteien einmal links wie rechts vom Rhein, dann brauen wir bloß noch abwarten.
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