Tag 1: Keine Schärpe an der Grenze

Es ist totenstill auf der Straße, als ich die letzte Proviantkiste in den Kofferraum wuchte. Aber 4.00 an einem Montag ist ja auch nicht unbedingt die Zeit für meine Nachbarn. Klammheimlich werde ich mich jetzt davon schleichen. Aber dreieinhalb Monate Bad Cannstatt waren jetzt auch genug.

Ich weiß, dass es etwas peinlich ist, gleich zum frühest möglichen Termin den Abflug zu machen. Aber ich muss einfach wieder raus.

Die Straßen wie leergefegt, auf der Autobahn spielen die LKWs mit sich alleine Überholspielchen. Dann kommt der große Moment. Ausfahrt Iffezheim, hier ist der Grenzübergang. Ob ich wirklich rüber komme? Ich werde ein wenig aufgeregt.

Vor der Rheinbrücke ist noch ein Schild, das von mir will, dass ich 10 Kmh fahre, weil gleich eine Polizeikontrolle kommt. Nur: da kommt nix. Sie sind tatsächlich weg. Und dann bin ich drüben. Einfach so. Keine jubelnde Menschenmenge schwenkt Europafahnen, kein Gehupe und auf Kofferraumhauben-Getrommel wie 89, kein französischer Grenzbürgermeister begrüßt mich als ersten deutschen Touristen seit Beginn der Krise, ich bekomme von niemand eine blau-weiß-rote Schärpe umgehängt, nicht mal ein Kaffee und ein Croissant ist drin.

Als wär sie nie dicht gewesen.

Trotz dem etwas enttäuschenden Wiedervereinigungsfest mit den besten Freunden, die wir Deutschen auf der Welt haben, macht sich gute Laune bei mir breit. Der seit Stuttgart beharrlich herumsprühende Nieselregen macht sich dünn, dafür kommt kurz vor Luneville Morgensonne. So ist’s schön.

8.00, im Bois Brulé über Apremoint-la-Foret scheint die Sonne durch das morgentliche Vögel-Konzert. Hier, im Frontbogen von St. Mihiel habe ich im Februar die letzte Station gemacht, jetzt bin ich wieder da. Deutsche und Franzosen saßen hier im Wald extrem dicht aufeinander, was den Grabenkrieg nicht angenehmer machte (scheiß Euphemismus). Die Deutschen fanden es beruhigend, ihre Gräben möglichst dicke auszubetonieren, was die Haltbarkeit der Verteidigungsstellungen bis heute ziemlich erhöht hat. Ein gutes Beispiel, dass technische Überlegenheit nicht unbedingt Kriegssieger macht. Dort, wo das Niemandsland am schmalsten war, stand ein altes Wegekreuz zwischen den Frontlinien, das Croix de Redoutes. Es wurde symbolisch.

Der Zünder vom Februar ist weg.

Die Forstverwaltung hat irgendwann im Winter den Wald um das Croix komplett abholzen lassen und das alte Grabensystem von Unterholz befreit. Jetzt, im Juni, wuchert es wieder fröhlich nach, aber dennoch kann man auf einer großen Fläche das System der Verteidigungs- und Laufgräben ziemlich gut begehen. Im Februar habe ich hier einen ziemlich fetten Granatenzünder* gefunden und auf dem Zementsockel des Gedenkreuzes abgelegt. Ich möchte nachsehen, ob er noch da liegt.

Reste des Drahtverhaus

*(Der Zündkopf selbst ist weitgehend ungefährlich, wenn keine Granate mit Sprengstoff an ihm dranhängt, den er zünden könnte. Nur, falls sich hier jemand Sorgen macht.)

Er ist weg. Jemand hat jetzt wohl einen Zünder auf seinem Kaminsims stehen.

Mittagszeit, tiefer in den Wäldern. Die Hügel und Schluchten im Wald haben die Geographie des Schlachtfeldes genau so bestimmt, wie das Schlachtfeld seine heutige Geographie prägt. Ich sitze in den hinteren französischen Linien an einer alten Mörserstellung und esse Käse, Möhren und Tiroler Schüttelbrot. Obwohl ich einen halben Liter Bio-Cola hinterher leere, spüre ich, dass ich seit halb vier Uhr morgens wach bin. Ich klemme den Rucksack hinter mir an den Baum und mache die Augen zu.

Ich wache auf, weil es hinter mir im Gebüsch knackt. Aber nichts zeigt sich. Eine halbe Stunde habe ich im Wald gedöst, die Sonne blinzelt durch die Blätter, die Vögel machen noch immer einen Lärm, dass sich Engelschöre anstrengen müssten, um sie zu übertrumpfen.

Das Leben ist schön. So schön wie es früher war.

Seltsame Pilze sprießen in diesen Wäldern ….

17.00. Ich komme wieder am Auto an, nachdem ich mich den ganzen Nachmittag in den Stellungen und Stollen herumgetrieben habe. An einer Sausuhle habe ich zwei fette Zünder gefunden, die die Wildschweine aus dem Dreck gewühlt haben. Ich habe sie daneben auf einen Baumstumpf gestellt und fotografiert, mal sehen, ob sie wieder jemand mitnimmt. Apremont scheint eine Zünder-Goldgrube zu sein.

Am Parkplatz stehen nun am Spätnachmittag zwei ziemlich große Wohnmobile und ein Multivan, aus dem zwei Franzosen Mountainbikes wuchten. Jetzt endlich kommt die Begrüßung, einer der Biker erkennt mein Nummernschild und fragt ob ich Deutscher bin. Er kann ein paar Brocken Deutsch, in etwa so gut, wie ich Französisch spreche. Ja Bier. Habe ich im Kofferraum von la voiture.

Wir lachen viel. Ein wenig so wie Leute, die sich eine Weile aus den Augen verloren hatten.

Abends koche ich Spaghetti in der Ferienwohnung. Wenn nicht ein paar Leute mit Masken unterwegs wären, dann könnte Covid 19 auch ein böser Traum gewesen sein.

Tag 2: Das G3 beim Volksbund

Am zweiten Tag ist der nördliche Rand des Schlachtfeldes mein Ziel, der mit dem Bois de Caures und dem Bois d’Ailly schon die letzten Male von mir erkundet wurde. Östlich von Brabant sur Meuse zeigt die alte Grabenkarte eine stark verbunkerte Anhöhe, ich will mal sehen, was davon heute noch übrig ist.

Oh schönes Frankreich

An einem Feldweg stelle ich morgens den Opel ab. Unter mir liegt die Maasebene, Korngelb, von Dörfern mit Kirchtürmen durchbrochen. Links davon das Schlachtfeld, eine dunkelgrüne Baummasse, die deutlich zeigt, dass menschliches Leben seit 1918 auf diesen Höhen nicht mehr möglich ist. Dahin zieht es mich. Zunächst stoße ich allerdings auf einen großen Bus des ONF (Office national des forêts), der vor rot-weißem Flatterband drei kaffeetrinkende junge Männer im Abiturientenalter beherbergt, die mich gespannt beäugen. Auf meine unbeholfene Frage, ob der Waldweg gesperrt sei, erklären sie mir wortreich und typisch französisch hastig etwas über „grapot(s)“, eine Vokabel, die mir leider fehlt. Angesichts meiner Verwirrung weichen sie auf „Grenouille“ aus, ein Wort, das ich kenne, so heißt die Hauptfigur aus Süßkinds „Parfum“ und es bedeutet „Frosch.“ Die Herren bilden also eine Art Jungkrötenwache im Wald, was mir kein schlechter Job zu sein scheint. Ich jedoch, als fußläufiger Wanderer, darf passieren. Ich habe kurz den Drang, scherzhaft einzuwerfen, dass ich nicht gedenke, eine irgendwie geartete Gefahr für die Frösche zu werden, aber meine Sprachkenntnisse lassen diesen Satz nicht zu, ohnehin könnte man mir bei näherem Nachdenken vorwerfen, dass das einer jener frankophoben Froschfresserscherze wäre, über den man 1916 im deutschen Teil des Schützengrabens recht dreckig gelacht hätte. Vielleicht ganz gut. dass ich den Witz nicht formulieren kann, sei’s drum, ich darf passieren. In den Pfützen auf dem Waldweg flitzen in der Tat zahlreiche Minikröten herum, wenn ich mich nähere.

Der Betonkäsekuchen, wirkt in Wirklichkeit größer

Tatsächlich ist der Hügel, den ich ansteuere, mit alten Stellungen übersäht, leider jedoch von dem bewachsen, was ich für mich als „niedrigen Scheißwald“ definiert habe: eine unterholzreiche, von Jungbäumen durchsetzte Gehölzhölle, durch die man nur mit hoher Kraftanstrengung kommt. Außerdem wirkt der Wald wie leergeräumt, selbst die allgegenwärtigen Weinflaschen oder Granatenhülsen fehlen. Schließlich stehe ich vor einer riesigen, halbrunden Betonform, deren Decke herabgebrochen ist. Sie wirkt ein wenig wie ein hundert Jahre alter Käsekuchen im Gigantenformat. Sieht aus, als hätten die Deutschen hier ein großes Geschütz installiert, daneben steht noch ein halbrunder betonierter Munitionsbunker voll rostiger Konservenbüchsen. Seine Decke beginnt einzustürzen.

Es wird immer schwüler an diesem Morgen. An einem Abhang mache ich Mittag, vor mir zerbrochene Weinflaschen, einige Rinderknochen, ein rostiges Ofenrohr. Sieht nach Feldküche aus, hier ist es wohl passend sein Vesper zu verzehren.

Richtig geraten. Dopp.Z stand für „Doppelzünder“

Bei jedem Schritt im Wald fliehen Dutzende von Jagdspinnen mit dickem, hellgrauen Hinterleib, es muss hier hunderte pro Quadratmeter geben. Mann könnte sie für eine große Spinnenherde halten, wenn man nicht wüsste, dass Spinnen nicht in Herden leben. Der Himmel zieht zu, die Schwüle wird unerträglich. An einem Hang finde ich mitten auf dem Weg einen sehr gut erhaltenen Zünder, nur seine Nase ist ein bisschen vom Aufprall eingedrückt. Sowohl die Entfernungsskala als auch die Aufschrifft „Dopp Z95“ ist perfekt zu lesen, es klingt einigermaßen Deutsch. Es sieht so aus, als hätten ihn Wildschweine aus dem Wegboden gewühlt.

Was ist der seltsame Zusammenhang zwischen Wildschweinen und Geschosszündern?

Der Wald hier bleibt schwierig, man sieht vom Weg aus, keinen Meter hinein. Eigentlich ist der Sommer die schlechteste Zeit, um die Schlachtfelder zu begehen. Der Sommer hat 7 Gründe, warum man lieber im Winter hier her kommen sollte:

  1. Zecken
  2. Zecken
  3. Brombeerranken
  4. Brennnesseln
  5. Stechmücken
  6. heiß, scheißheiß
  7. Unterholz und Laub
Einst ein Suppenteller in einem Bauerndorf. Jetzt Kriegstrümmer.

Gegen 15.00 treiben mich dumpfes Donnergrollen und dicke Tropfen Richtung Auto. Eigentlich ist es zu früh für die Ferienwohnung. Ich beschließe auf dem Weg nach Verdun beim zerstörten Dorf Haumont-près-Samogneux halt zu machen, einem Ort, durch den ich im Februar nur durchgefahren bin. 2014 wurde das 1916 in der Offensive komplett zerschossene Bauerndorf vom Unterholz befreit und mit Gedenktafeln erfahrbar gemacht. Vor jedem Schutthügel, der einmal ein Haus war, stehen die Namen der Bewohner auf einer Tafel, manchmal lebensgroße Fotografien als Aufsteller. Hinter dem Ort rieselt eine Quelle die Schlucht hinab und dort, in den flachen Wasserläufen, liegen die Reste einer Gemeinde: Ziegeltrümmer, halbe Teller, Stacheldraht, Tonscherben, eine rostige deutsche Stielhandgranate. Haumont-près-Samogneux fließt buchstäblich den Abhang hinab, jedes Jahr, jede Schneeschmelze ein paar Dutzend Meter mehr, im wahrsten Sinne liquidiert vom Krieg. Trauriges Symbol für die Bedeutungslosigkeit der zivilen Existenz im Angesicht der uniformierten Militärlogik.

Plötzlich donnert ein grauer Helikopter im Tiefflug heran und schwebt minutenlang über der Gedenkkapelle am Hang. Während ich verwirrt durch die Äste auf das Fluggerät starre rieseln aus den Bäumen die vom Rotorenwind losgerissenen Blätter auf mich herab. Was will die Maschine hier? Französische Armee? Warum steht das Teil über mir in der Luft?

Die Situation ist sureal.

Als ich gegen 17.00 wieder ins Auto steige, springt ein Rehbock zwischen den nun wieder stillen Schutthügeln hervor und hetzt über die ehemalige Dorfstraße.

Abends im Restaurant direkt an der Maas. Ich bin mittlerweile nicht mehr der einzige Deutsche hier, am Nebentisch speisen zwei ältere Bundeswehroffiziere, miteinander streng per Sie, aber weltbildlich ganz intim. Der eine, etwas ältere, trägt eine Kargohose aus grauem Wildleder. Er ist Landesvorsitzender des Volksbundes der Deutschen Kriegsgräberfürsorge, welchen Bundeslandes erwähnt er nicht. Sein Thema sind Waffen. Das neue G36, das sage ihm nichts. „Aber das G3, das kann ich noch im Schlaf zusammenbauen. Wenn jemals was los sein sollte, dann würde ich immer fragen: habt ihr nicht noch so’n G3 für mich?“

Während ich meinen Salat mit Ziegenkäse kaue, frage ich mich, was der ältere Herr sich unter „was los sein“ vorstellt. Der Russe greift an? Flüchtlinge drücken einen Grenzzaun ein? Linke Demonstranten schmeißen Kolonialdenkmäler in die Elbe?

Hoffentlich haben die kein G3 für ihn.

Sein Gegenüber, etwa in den mittleren 40ern, ist frisch geschieden. Beide versuchen sich gegenseitig im Bundeswehr-Insider-Wissen zu übertrumpfen. Wie viele Generalsstellen es wohl mittlerweile gäbe (offensichtlich über 200. Wow.) Ab wann man offiziell als „Veteran“ in der Bundeswehrverwaltung geführt werde. Was bei einem Gebirgsjäger-Teambildungs-Lehrgang in Sonthofen gelehrt werde.

Ich stelle mir vor, wie diese beiden offensichtlich für einander geschaffenen Menschen im Hotel zu späterer Stunde übereinander herfallen werden, und sich zärtlich dabei Kaliberstärken, Magazingrößen, Mündungsgeschwindigkeiten und effektive Reichweiten ins Ohr flüstern, um ihre Erregung beim Liebesakt zu steigern. Bin ich krank? Oder die?

Am Ende geht es mir wie Jan Delay im Song „Kartoffel.“ Man kann seinem eigenen Deutschsein nicht entkommen. Aber wenn man Landsleute im Ausland trifft, schämt man sich immer.

Tag 3: Flaschendrehen in Ruhestellung

Was schallt am Waldbach da? Jagdklang naht, trara! (Theaterleute schmunzeln hier)
Rinderknochen aus der Suppe

Auf die heutige Exkursion in die Argonnen habe ich mich schon ganz besonders gefreut, nicht nur, weil ich die Argonnen außerordentlich schön finde, sondern auch, weil ich an eine Entdeckung aus dem Winter anknüpfen will, die ich aber damals erst am späten Nachmittag gemacht habe und nicht mehr ganz weiter verfolgen konnte.

Ein Stiefelsohleneisen – Reitstiefel?

Wenn man einem bestimmten Waldbächlein folgt, kommt man bald in ein tief eingeschnittenes Waldtal, durch dass sich das Wasser des Bachs schlängelt. Im Januar war der Bach ganz schön aktiv, jetzt im Juni führt er kaum Wasser. In die recht hohen beschusssicheren Hänge haben die Deutschen vor 100 Jahren ihre Infrastruktur zur Versorgung der Argonnenfront gepflanzt: Unterstände, Lager, Verbandsplätze, Verpflegungsstellen.

Champs de bouteille

Es ist noch verdammt viel übrig.

Sie quillen förmlich aus den alten Unterständen

Schon der Bachgrund offenbart wenn man ihn aufmerksam mustert zahlreiche Fundstücke, ganz offensichtlich unzählige Flaschenstücke oder auch ganze Weinflaschen; Keramikscherben, Porzelanisolatoren (offensichtlich gab’s Strom), gelegentliche entschärfte Hülsen oder auch vereinzelt noch scharfe Granaten; Patronen, Rinderknochen, Zinkblech, Steingutbruch. Unübersehbar sind jedoch riesige Flaschenhalden, die sich um die alten Feldküchen auftürmen. Hunderte, eventuell Tausende liegen im Wald.

Viele sind noch intakt; Viele durch Frost, Felsstürze und umfallende Bäume in Scherben. Mitnehmen an einen besseren Ort darf man sie aber nach französischem Recht nicht. Kümmern tut sich um diese Relikte auch niemand. Man müsste sie also im Wald in Scherben gehen lassen, in hundert Jahren findet man dann keine ganzen mehr, sondern nur noch ihre dicken Scherben. Aber die Archäologen wollen das offensichtlich so.

Das Unternehmen J.A. Gilka residierte in der Schützenstr. 9 in Berlin-Mitte und war bekannt für Kümmel.
Sieht so aus als hätte jemand schon sortiert.

Obwohl der Wald vieles längst überwuchert hat, stößt man im Tal mit jedem Schritt auf die Hinterlassenschaft der Soldaten. Hier in diesem Tal lebten sie; ein paar Kilometer weiter im Grabengewirr starben sie.

Der Wetterbericht war für heute reichlich schlecht. Den ganzen Morgen glaube ich noch an mein Glück, denn es tröpfelt nur ganz leicht. Mittagessen kann ich am Rand des Bachtales sogar komplett trocken einnehmen. Danach geht es aber los, und man kann es leider nicht anders sagen: es pisst aus Eimern. So, dass ich diesen riesigen Regenumhang aus dem Rucksack krame und darunter aussehe wie eine schwarze Horrorgestalt. Er hilft ein bisschen.

So will man mich nicht treffen ,,,,

Gegen 14.00 macht es dann keinen Sinn mehr. Ein völlig zugeregneter Wald ist wie Wandern auf einem tropfnassen Riesenschwamm. Gräser, Büsche, Äste geben die Feuchtigkeit gnadenlos an dich ab. Die Nässe kriecht die Hosenbeine hinauf. Meine schon wieder ziemlich heruntergerockten Wanderstiefel halten einen Tritt in den Bach noch immer ganz gut durch, aber nach drei Minuten Regenwiese schwimmen sie. Das Wasser quetscht sich bei jedem Schritt durch meine klatschnassen Socken. Schweren Herzens aber feuchten Arsches wende ich mich Richtung Auto und schlage mich zurück nach Verdun. Im Kofferraum liegen wohltuend trockene Klamotten, das Wasser, dass ich aus meinen Socke wringe, ist angenehm körperwarm.

Auf dem Weg komme ich bei Vienne-le-chateau am deutschen Soldatenfriedhof vorbei, endlose schweigende graue Kreuzreihen im düsteren Regen. Hatte einer, der hier vergraben wurde, mal eine der Weinflaschen in der Hand, die ich heute gesehen habe?

Einige Kilometer weiter, am südlichen Rand der Front, liegen bei La Harazee ihre französischen Altersgenossen und geben genau das selbe traurige Bild ab, nur mit weißen Kreuzen. Das bleibt bis zum Schluss von deiner Individualität und über dein Ende im Dreck hinaus: deine Nationalität. Kalkweiß oder Aschegrau, das unterscheidet dich immer noch, denn staatliche Ordnung muss sein. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Und wenn sie bei deinem Kadaver nichts mehr finden, was deine Nationalität erraten lässt, Erkennungsmarke perdu, keinen Helm, kein Gewehrmodell, kein Koppelschloss, keine charakteristische geformte Handgranate, dann raten sie von der Position deiner Überreste ausgehend, ob du zu den Grauen oder zu den Weißen gelegt werden musst.

Keine Fraternisierung mit dem Feind, auch als Knochenhaufen bitte nicht.

Jetzt trocknen in meiner Wohnung diverse Outdoorklamotten und es müffelt etwas. Heute abend gibt es Bratkartoffeln mit Munsterkäse und Spiegelei. Nahrhaft, fettreich, deftig. Wenn ich Wein in der Wohnung hätte würde ich mir sogar im Gedenken an die champs de bouteille einen aufmachen. So muss es eben Bier tun. Ich denke, die kalkweißen oder aschgrauen Jungs finden Bier durchaus auch angemessen.

Tag 4: Bleiben Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit auf dem Weg

Am sogenannten „Toten Mann“ war ich schon lange nicht mehr, zumindest nicht direkt um die Höhe herum. Einer der Kulminationspunkte des Gemetzels, mir zu bekannt, zu frequentiert, zu touristisch.

Habe mich geirrt.

Auf den militärischen Karten ist der etwas gruslige benannte Hügel, der übrigens schon vor 1914 so hieß, zweckdienlich als „Höhe 304“ verzeichnet, wobei die Zahl für die Höhenmeter steht. Messungen nach 1918 ergaben allerdings nur eine Höhe von 297 Metern, was entweder heißt, dass die Vorkriegsgeometer ganz unglaubliche Luschen gewesen sein müssen oder dass der Hügel um sieben Meter im Krieg geschrumpft ist. Das Letztere ist der Fall, eine beachtliche Kulturleistung und durchaus charakteristisch für unsere Rasse, dass wir es schaffen, sieben Meter Berg durch kontinuierlichen irrsinnigen Granatenbeschuss zu Staub im Wind zu pulverisieren.

10.000 junge Männer verloren auf diesem Pickel von Anhöhe ihr Leben für Volk, Vaterland und nationalistischen Irrsinn. Umgerechnet etwa 360 Abitursklassen. Dafür setzte man ihnen nach 1918 eines der grusligsten Denkmäler der Geschichte: einen fahneschwenkenden Leichnam aus Marmor.

Was drei Meter Waldweg so alles hergeben …?

Ausgehend von diesem Punkt steige ich gegen 9.00 aus dem Auto und versuche mich in den Wald zu schlagen, um die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Auf einem Schild wird mir geraten, unbedingt auf den Wegen zu bleiben und ich hätte es beherzigen müssen. Zum einen lese ich die Grabenkarte von 1917 völlig falsch und gerate in ein überwuchertes Seitental ohne jede Stellungen; zum anderen entdecke ich eine Stunde später, dass die Kieswege hier dermaßen spannend und fundreich sind, dass sie den Begeher mit Artefakten aus dem Krieg zuscheißen – völlig.

Weg mit Knalleffekt. Die leere Hülse kommt von mir, als Warnung.

Dazu muss man nahe mit der Nase am Boden gehen, was von Außen sicherlich ziemlich lustig aussieht, aber in der Regel sind ja andere Menschen bei meinen Exkursionen der absolute Ausnahmefall. Wer im weißen Kies ein entsprechend geschultes Auge hat, der könnte auf etwa einen Kilometer mehrere Dutzend Kilogramm Granatsplitter aus dem Weg pulen. Vom kleinsten Eisenkörnchen bis zum unterarmlangen Monster. Dazwischen finden sich die losgesprengten Zündköpfe – aus weicherem Messing, daher meist unversehrt, weil der Stahlkörper des Geschosses zerreißt, bevor das Messing kaputt geht – und zahllose kleine Bleikugeln aus einer ganz besonders sympathischen Erfindung der Kriegskunst, dem Schrappnell oder der Kartätsche, eine Art Bleikugelspuckergranate, die Menschen in blutige Klumpen verwandelt.

Auf dem Toten Mann ging es dermaßen ab, dass sich die Hölle selbst in die Hose gemacht hätte.

Als ich auf einen breiteren Weg in Ost-West-Richtung abbiege freue ich mich sehr nach einigen Metern eine Gewehrkugel zu erblicken – im Vergleich zu den Tonnen von Granatsplittern eher ein seltener Fund. Dann blicke ich auf und sehe, dass der gesamte Wanderweg mit bläulich oxidierter Infanteriemunition übersäht ist. Alles französisches Kaliber, leicht an der bauchigen Patrone zu erkennen. Eine ganze Kiste Munition liegt auf dem Weg zerstreut und wirkt, als hätte der gestrige Starkregen die einzelnen Patronen die Steigung herunter gespült.

Gut, dass die Urlauberfamilien mit den Kindern auf den Wegen geblieben sind.

Viel mehr fällt dir dazu nicht ein? Nö.

Die Kleinen hätten ja das Spielen mit Munition völlig verpasst. Ich werde von einem Anflug humanistischer Kitschigkeit überwältigt und lege das Wort „Paix“ mit Patronen auf einem großen Kalkstein aus. Blau auf weiß, wenn jetzt noch einer drüberblutet, haben wir die Trikolore.

X marks the Gewehrgranate.

Die nächste Überraschung: auf dem Weg liegt ein bisschen weiter, ein nahezu völlig im Kies vergrabenes leichtes Artilleriegeschoss, natürlich scharf, das beliebte All-Star-Kaliber beider Seiten: 75 mm. Gut dass sich das Rostbraun klar vom weißen Kies abhebt, könnte sonst jemand drauf treten. Aber es wird noch schöner: 100 Meter weiter prangt im Aushub des Wegesrandes eine Gewehrgranate, klein, leicht zu übersehen, und als Blindgänger so bösartig, dass sich die 7,5 cm Granate von gerade eben vor ihr fürchtet.

So langsam wird mir klar, was hier am Weg passiert ist, denn er wirkt auch so neu. Das Ganze hat mit dem Holzpreis zu tun. Die Wälder auf dem Schlachtfeld sind reif. Die meisten wurden zwischen 1927 und 1933 aufgeforstet, also nahezu hundert Jahre alte Bäume, ganz schön viel Kohle pro Quadratkilometer. Dazu kommt der Klimawandel: Trockenheit, Hitze und Borkenkäfer töten die Tannen und Fichten zur Zeit rasend schnell und einmal tot und morsch taugen sie nur noch für Pellets.

Also muss das Holz raus.

Eine Art … Karabinerhaken?

Wie aber gelangt die Holzwirtschaft an die Ressourcen? Leider nur über Wege, und zwar über breite Wege. Man könnte jetzt sorgfältig die Umgebung der bestehenden Forst- und Wanderwege mit Detektoren und Entschärfungsteams absuchen und den ganzen gefährlichen Mist erst mal rausmachen. Oder man spart als Gemeinde Zeit und Geld und lässt ein paar dicke Planierraupen über die Strecke rauschen. Die verbreiteren das Ganze so, dass auch zwei monströse Sechsachs-Holzlaster nebeneinander ins Herz des Schlachtfeldes brausen können. Natürlich schieben die Planierraupen dabei auch links und rechts etwa einen Meter Schlachtfeld ab und vor sicher her und türmen es zu einer dicken Böschung auf. Aus der kuckt dann alles Mögliche heraus: spannende Dinge und explosive Dinge. Wird schon schiefgehen. Natürlich geht auch viel an archölogischen Befunden unter der Raupenkette einfach kaputt. Aber Hauptsache keiner nimmt was mit.

Noch ein Knallbonbon vom Raupenbagger.

Mir beschert diese ökonomische Taktik eine Vielzahl von Einblicken in die Kämpfe, ohne dass ich mich für diesmal durch zeckenverseuchte Unterholzhöllen quälen muss. Ich hoffe aber immer noch inständig, dass Familie Kowalski aus Gladbach mit der Gewehrgranate keinen Quatsch macht. Oder zumindest die Eltern das Ding vor dem achtjährigen Jerome entdecken. Ich habe aus Vorsicht mal hinter dem übelsten Knallzeug zwei Wurzel X-förmig in den weichen Aushub gerammt. Damit niemand unbeholfen darüber stolpert, der Gedanke macht mir irgendwie Sorgen.

Sicher ist sicher.

Tag 5: Das Widerlichste, das ich je gesehen habe

Josh der Frosch hat sein Bajonett verloren. Jetzt muss der kleine Jerome aus Gladbach ihm durch das Granattrichterquiz helfen, dann bekommt die ganze Familie verbilligten Eintritt ins Beinhaus. Hätte ich mir besser nicht ausdenken können, ist aber ein echter Versuch, kindgerechten Schlachtfeldtourismus zu unterstützen. Ich fürchte, es blieb beim Versuch. Ist Josh Franzose oder Deutscher?

Kein Witz: Josh braucht sein Bajonett

Die Ferienwohnung wieder aus- und aufzuräumen hatte länger gedauert, als gedacht, so dass ich erst gegen 9:30 im Tranchée de Calonne stehe. Die nördliche Flankenstellung am Frontbogen von St. Mihiel hatte unter Soldaten keinen guten Ruf, weshalb sich beide Seiten im dichten Wald recht tief in die Erde verbuddelt hatten. Nachdem sich Franzosen und Deutsche vier jahre an der einsamen Straße (die heutige D331) ohne echtes Ergebnis blutig beharkt hatten, wischten die Amerikaner im September 1918 den Frontbogen in 48 Stunden weg.

Not machte erfinderisch und die Not war groß.

Meine Exkursion steht heute unter keinem guten Stern. Zuerst parke ich den Wagen eine Kreuzung zu früh, merke es aber zu spät, und spaziere so eine Stunde weit hinter der Front herum und wundere mich, warum meine Schützengrabekarte nicht mit der Realität übereinstimmt. Wenigstens entdecke ich so einen coolen Selbstbau-Ofen aus dem Grabenimpro-Baukasten der französischen Poilus. Dann verwechsele ich Osten und Westen und gehe einen Kilometer gerade in die falsche Richtung. Schließlich bekomme ich inneren Orientierungssinn, Klugheit und Karte wieder in Einklang und … stolpere in das Widerlichste, das ich je gesehen habe.

An einer rückwärtigen Hügelstellung erhebt sich ein ziemlich massives Erdwerk mit meterhohen Wänden. An der Seite gibt es einen Stolleneingang, noch sehr gut erhalten, so hoch und breit, dass man ohne Probleme ein totes Wildschwein hinein werfen kann.

Wie komme ich auf diesen makabren Vergleich?

So: Als ich den Kopf in den Bunker strecke fällt mir als erstes ein Wildschweinschädel auf. Knochen von Tieren finde ich häufiger mal in alten Unterständen, sie scheinen sich dort zum Sterben zurückzuziehen. Dann entdecke ich noch einen. Und einen Hirschschädel daneben. Und Beinknochen. Schulterblätter. Rippen. Da sind ganze Tiere. Ihre Reste. War das ein Fuchs?

Das Foto gibt nur einen schwachen Eindruck, Zum Glück.

Ich stehe in einer Kadaverhöhle. Gottseidank ist gerade keine Jagdsaison und die meisten Tiere sind stark verwest, nur noch Knochen. Wenn die Höhle mit frischen Tierleichen gefüllt ist, muss der Gestank unerträglich sein. Der Boden ist mit einer dicken Schicht verwesender Tierhaare bedeckt, die aus den Häuten gefallen sind. Das Leichenfeld erstreckt sich noch um die Ecke, tiefer in den Stollen hinein.

Ich versuche zu realisieren, was ich sehe.

Dann realisiere ich es. Ich schieße schnell ein (leider sehr unscharfes) Foto, und flüchte in die frische Luft. Schlecht wird mir erst hinterher, als ich die Bilder im Kopf Revue passieren lasse und darüber nachdenke, in was für einer Verwesungsorgie ich gerade gestanden bin. Zwar in dicken Schuhen, mit Kappe, Handschuhen, Jacke, aber doch mitten drin. Diese Schweine.

Ich zähle ein paar Dinge jetzt zusammen, und somit bleibt der Hintergrund dieser Killing Fields für Jagdwild im letzten Sinne Spekulation. Aber vor etwa zwei Jahren kam ich im Dezember in der selben Ecke, einige Kilometer weiter nördlich, an einer Jagdhütte der staatlichen Forstbehörde vorbei. Direkt dahinter die Trichter und Gräben der deutschen zweiten Linie. Auch diese Gräben waren voller Tierschädel. Und Fell.

Wer erschießt Tiere, um sie danach einfach in den Wald zum Vergammeln zu werfen?

Es gibt seit Jahren das Gerücht, dass Wildbret aus der roten Zone so hoch mit Giftrückständen aus dem Krieg belastet ist, dass man es eigentlich nicht essen darf. Kann Spuren von Sprengstoff und Senfgas enthalten und ist ab 200 Gramm Wildschweingulasch krebserregend. Weiterhin hört man (und erlebt es im Herbst in diesen Wäldern auch), dass dennoch Wild geschossen wird und auf dem europäischen Wildfleischmarkt landet. So ein Forengerücht aus obskuren Weltkriegsforen.

Keine, keine waidmännische Idee der westlichen Welt aber kann es rechtfertigen, die Kadaver der erlegten Tiere einfach irgendwo hin zu schmeißen und sie verfaulen zu lassen. Selbst wenn man aufgrund irgend einer forstwirtschaftlichen Doktrin das Fleisch nicht verwerten, aber auf das Totschießen auch nicht verzichten kann, so gibt es in zivilisierten Ländern Tierverwertungsanstalten, die Körper entsorgen. Aber in ein Loch im Wald schmeißen, das hat kein Lebewesen verdient, liebe Jäger. Wo bleibt euer Respekt vor der Natur. Oder der Respekt vor den Poilus, die in diesem Dreckloch von Krieg vier Jahre saßen, Frankreich verteidigten, die man immer noch gerne auf Stelltafeln zu Helden macht, die diesen Stollen gruben, um dem deutschen Granatenhagel zu entgehen. Ehrt man ihr Andenken, indem man ihre Unterstände zum Mülleimer für überschüssige Jagderfolge macht?

Ihr seid das Widerlichste, dem man je eine Flinte in die Hand gedrückt hat. Möge euch der Gott der Wälder mit andauernder Ladehemmung in Waffe und Hose strafen.

Nachdem ich mir nun das von der Seele geschrieben habe, wurde mein Tag besser. Ich finde mein Auto, fahre an die richtige Stelle, bekomme mein Mittagessen herunter. Am Nachmittag finde ich eine kleine, enge Schlucht, in die einiges heruntergefallen ist. Ein ziemlich großer Kochkessel, ein vollständig erhaltener Grabenschild, darüber thront ein offener Bunker, in dem sogar noch die Halterung für das MG 08/15 erhalten ist. (Wer jetzt findet, dass das ein ziemlich lustiger Name für ein Maschinengewehr ist, der google mal die Herkunft des Ausdrucks, etwas sei „08/15“)

Gerade als ich in der Schlucht herumstreune raschelt es links von mir. Ein Rehkitz stakst unbeholfen und mit einem ängstlichen Blick auf mich den Hang hinauf. Ein Rehkitz! Das erste, das ich in freier Wildbahn sehe. Sofort überkommt mich Reue. „Ich wollte dich nicht stören, hätte ich gewusst, dass du hier auf die Mama wartest, wäre ich woanders hin.„, so führe ich das innere Zwiegespräch mit dem kleinen Tier. Ganz schön weich, für einen alten Zyniker. Darüber hinaus wundere ich mich, ich dachte immer Kitze lägen im hohen Gras, an Waldrändern, auf Blumenwiesen, und in dem feuchten Loch hier gibt es eigentlich nur viele junge Bäume. Aber vor allem ein Gedanke drängte sich mir auf.

Wer bringt es fertig, auf so etwas zu schießen?

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