Als der junge König Wilhelm I. 1824 vor dem Stuttgarter Schloss sieben nagelneue Lokomotiven aufstellen ließ, war das im Königreich Württemberg ein ziemliches Medienereignis. Wilhelm verstand dies als Modernisierungsschub für sein schwächelndes Reichle, in dem nach wie vor viele Verhältnisse des 18. Jahrhunderts ungebrochen weiter herrschten, inklusive Traditionen wie Hunger, Elend und mittelalterliche Zunftgesetze. Und man konnte sich mit anderen europäischen Staaten, zum Beispiel durch die britische Industrialisierung oder die napoleonische Reformpolitik, ganz gut vergleichen und als Württemberger feststellen, dass man kräftig hinten dran war. Ganz, ganz hinten. Also beschloss Wilhelm durch einen öffentlichkeitswirksamen großen Sprung ins Industriezeitalter zu demonstrierend, dass er seinen durch die göttliche Vorhersehung eingeräumten Platz an der Spitze einer Nation auch verdiente. Auch wenn dies für die Staatskasse fucking teuer werden sollte.

Die Lokomotiven bestellte man beim westfälischen Hersteller Haakfort, Cie & Co., der vermutlich besten deutschen Lokomotivenschmiede. Wilhelm sparte nicht bei der Modellauswahl. Zudem gestaltete sich der Transport der eisernen Ungetüme kostspielig, die größte Strecke wurden sie auf umgebauten Lastkähnen auf dem Rhein verschifft, für den Restweg nach Stuttgart wurden überschwere Spezialkarren für die Zukunftstechnologien angefertigt.

Als die sieben Wunderwerke der Technik endlich vor dem Schloss aufgereiht waren, war das ein Festtag für das Land. Es war April und eben jener Gott, der Wilhelm mit seiner weisen Voraussicht ins Amt gehoben hatte, ersparte ihm einen Regentag. Die Lokomotiven standen aufgereiht, mit Blumenkränzen in Landesfarben geschmückt und das schwäbische Volk aus der Umgebung durfte sie bestaunen; die Hofkapelle spielte das Württembergerlied; Wilhelm hielt eine Rede, in der er betonte, wie sehr er als Landesvater keine Kosten und Mühe scheue, um in seinem Ländle die Rückständigkeit im Vergleich zu anderen Mächten zu überwinden, und dass er aus der klammen Staatskasse die Summen persönlich freigestellt hätte, um diese wunderbaren Geräte für die Infrastruktur in Württemberg der Bevölkerung zu übergeben.

Man klatschte brav und Wilhelm erhoffte sich die Dankbarkeit seiner Kritiker.

Wie empört war der Monarch allerdings, als liberale Zeitungen und der württembergische Handelsverband mit Kritik an der Millioneninvestition am nächsten Tag nicht hinterm Berg hielten. Er verlangte umgehend eine Untersuchung gegen diverse Journalisten und Verbandsvorstände nach den Karlsbader Beschlüssen. Denn die Industrialisierungs-Insider pochten darauf, dass die reine Anschaffung der Dampffahrzeuge – nichts Größeres als völlig sinnlos war. Eine Lokomotive nütze nichts ohne Schienenetze, zu deren Ausbau seien Geologen, Tiefbau-Ingenieure, Brückenkonstrukteure notwendig, die aber nach wie vor fehlten. Wilhelm habe versäumt, zu den Geräten auch fähiges Personal anzuschaffen. Heizer und Führer könnte man ja zur Not aus dem vorhandenen Staatsdienerstand halbwegs anlernen; aber ohne Techniker aus Westfalen wären die Maschinen vermutlich nicht lange fahrbereit, Wartung, Reparatur, etc., auch Streckennetze bedürften andauernder Pflege, alleine das Erstellen sinnvoller Fahrpläne sei eine Aufgabe für Experten und könne nicht einfach so nebenbei erledigt werden. Kurzum: Die Millionen für die Lokomotiven seien verschwendet, wenn man nicht noch weitere, fehlende Millionen in Strukturen und Know-How stecken würde, und vor allem in Fachleute. Der König war zutiefst empört über seine undankbaren, ewig nörgelnden Großbürger. Und fand die Welt ganz schrecklich ungerecht.

Die obige Geschichte ist erstunken und erlogen, nie passiert.

Sie entstammt alleine meinem Hirn und ist damit keine historische Tatsache, sondern eine kranke Parabel auf die derzeitige Digitalisierungsarbeit der Verantwortlichen im Bildungssystem. Mal wieder. Aber meine Parabel passt, es gibt zahlreiche heutige König Wilhelms (und Königinnen Wilhelmine): sie entstammen einer überholten Zeit, aufgewachsen mit traditionellen Ansichten, aus einem System, das langsam in Überalterung versinkt; sie bringen wenig Verständnis für die Begleitumstände der Moderne auf, versuchen neue Problemstellungen mit alten oder halben Lösungen anzupacken und scheitern darin, können dies aber nicht aussprechen oder gar ändern. Und glauben.

Die Lokomotive des 21. Jahrhunderts heißt Endgerät. Jahrzehntelang war der Irrglaube, die Lösung für die Digitalisierungsprobleme des Bildungswesens seien Laptops, Tablets, Ding-mit-Prozessor-und-Speichermedium-and-that’s-it nicht auszurotten. Übrigens auch in weiten Teilen der Berichterstattung über das Thema nicht, die ja auch schwerpunktmäßig von alten weißen Männern aus der Zeit des DFÜ-Modems geleitet wird. Und die meisten aus dem Kreis der Gestalter*innen in Verantwortungspositionen verstehen bis zu diesem Augenblick nicht, warum Millionenmittel für Endgeräte („Digitalpakt“) das Problem nicht lösen, nicht einmal ansatzweise.

Digitalisierung ist eine Struktur. Ein Weltbild. Eine Lebensweise. Und da stecken sie nicht drin.

Bei uns wird das Netz von Hobbyisten organisiert. Mit „uns“ meine ich meine Schule und mit „Hobbyisten“ etwas despektierlich unsere Netzwerkbetreuer, also ausgebildete Pädagogen, die sich für ein paar wenige Entlastungsstunden den Arsch aufreißen, damit die wackelige Digitalstruktur meiner Schule ansatzweise weiter läuft. Bitte nicht falsch verstehen: Diese armen Schweine schaffen sich dumm und dusslig, mit dem Idealismus der Verzweiflung, damit überhaupt irgendetwas läuft. Sie hätten einen Orden verdient, einen württembergischen, aus der Hand des Königs, mindestens.

Aber bei uns stehen für ein Netzwerk von ca. 1600 Schüler*innen und 150 Kolleg*innen einige dünne Entlastungsstunden für ein paar Lehrer (meistens Männer) zur Verfügung, die Netz, Server, Berechtigungsmanagement, Dateistruktur und was alles zum ITler dazugehört nie gelernt haben, sondern sich nur interessehalber angeeignet. Das ist, als ob der Staat drei Hobbydrachenflieger damit beauftragen würde, das Landedeck eines Flugzeugträgers zu organisieren. In zwei Stunden täglich. Weil ausgebildete Fluglotsen zu teuer wären.

Wahnsinn? Oh ja. Diagnose: Realitätsverlust.

Reden wir nicht über die schwache Netzstärke in Deutschland, vor allem im ländlichen Raum. Reden wir nicht davon, dass noch keine Landesbehörde es geschafft hat, den Schulen datenschutzkonforme Software zur Verfügung zu stellen, und dass deswegen die lückenhafte digitale Struktur an den meisten Schulen auf dem Bruch europäischer Datenschutzregelungen beruht, so dass die Nutzer und erst recht die Macher an der Schule immer mit einem Bein in der Strafanzeige oder Schadensersatzklage stehen. Reden wir lieber davon, dass es kaum möglich ist den Verantwortungsträgern beizubringen, dass Digitalität keine Palette mit nagelneuen Laptops und eine Nachmittagsfortbildung für Pädagog*innen ist. Sondern viel mehr. Und viel teurer. Viel viel teurer. Das finde ich das Erschütternde, die beharrliche Weigerung im Kopf das Jahr 2020 zu erreichen.

Stattdessen trompetet man von der Schulleitungsebene bis hoch in die Ministerien Erfolgsmeldungen in die Welt. Dafür, dass man es geschafft hat mit Ochsenkarren sieben Lokomotiven vor das Stadtschloss zu zerren. Und wenn (und deswegen) trotzdem alles nicht gut läuft, ist das nicht die Verantwortung der Verantwortlichen sondern eine Folge der Faulheit des Personals.

Diese Haltung ist geistig widerlich. Nichts weniger.

Kurz zur Realität: Dass ich in meinem Klassenraum einen milchigen Tageslichtprojektor und eine verbeulte Tafel stehen habe ich an anderer Stelle geschrieben. Weil vor geraumer Zeit ein paar besorgte Bürger*innen auf die Idee kamen, in die entsprechenden Gesetzesstellen zur Lernmittelfreiheit zu sehen, dürfen wir seit diesem Schuljahr nicht mehr verlangen, dass Eltern Zusatzmaterial wie Schulkalender, Übungshefte oder Deutschlektüren bezahlen, wir dürfen nur noch darum bitten. (Gebe Gott, dass diese Kreise nie die DSGVO in die Hand bekommen …) Also stehe ich in einem der reichsten Bundesländer einer der reichsten Nationen der Erde in einem abbruchreifen Klassenzimmer und bettele im Namen des Schulträgers vor einer alten Tafel darum, dass die Eltern dem Schulträger fünf Euro für den Schuljahresplaner schenken. Weil sonst pleite. Ich bettele im Namen des Staates die Bürger an.

BRD kann sich wie DDR kurz vor dem Zusammenbruch anfühlen.

Seit kurzem darf ich ein Dienstgerät mein Eigen nennen. Also klar: es gehört mir nicht. Und ich bin -so glaube ich – auch bisher der einzige Kollege bei uns, zurückzuführen auf meine beharrliche jahrelange Weigerung, Daten von Landeskindern mit etwas anderem zu verarbeiten, als mit einem rechtskonformen Dienstgerät aus den Händen des Staates. Mein Gerät ist ein teures Markentablet, Kostenfaktor etwa 500 Euro. Viel Geld, vor allem für ein Lifestylegerät mit Touchscreen, ohne technische Peripherie außer einem USB-C-Anschluss und einem SIM-Karten-Slot. Ein Gadget für Influencer*innen, cool wenn man Abends auf dem Sofa Serien streamen will. Ins Internet kann ich damit in der Schule nicht, es gibt keine Ethernetbuchse und ein WLAN haben wir nicht. Im Unterricht einsetzen kann ich es nicht, ich habe im Klassenzimmer ja wie erwähnt kein digitales Bildwiedergabegerät, aber selbst wenn: Das Spielzeug hat keinen HDMI-Ausgang. Ein billiger Laptop für 300 € wäre hingegen ein Arbeitsgerät gewesen, aber irgend jemand in der Beschaffung meinte wohl, eine teure Surfmaschine kommt öffentlich schick rüber. Eigentlich Steuerverschwendung. Und für das digitale Arbeiten in der Verwaltung (oder auch als Schülergerät) so einsetzbar wie ein Elektro-Roadster für den Warentransport, eingekauft mit wenig Verständnis für Technik.

Immerhin scheint die Kanzlerin, der ich bei aller politischen Meinungsverschiedenheit zugestehe, eine kluge Frau zu sein, begriffen zu haben, dass man aufhören muss, nur über Endgeräte zu reden. Beim letzten „Bildungsgipfel“ in Berlin unter ihrer Leitung (mit Frau Esken) war plötzlich von „technischem Personal“ die Rede. Das ist nichts weniger als eine verständnistechnische Revolution in der Politik. Da hat jemand begriffen, was den Entwicklungsprozess seit 20 Jahren verhindert.

Leider hatte der Gipfel reinen Aufforderungscharakter. Weisen kann man den kleinen Bildungsfürsten der Republik leider gar nichts, nach dem Gespräch in Berlin darf jede*r wieder nach Hause fahren und so weiter machen wie bisher. Jeder was anderes, Hauptsache was anderes als die anderen, aber alle immer ohne Investition in Strukturen. Geld gibt’s nur für Tablets. Verbunden mit Erfolgsmitteilungen. Bloß keine Fachleute involvieren, die widersprechen uns am Ende noch. So wie der Drosten, darf sich nicht wiederholen. Ändern tut sich durch diese Perspektive auf die Welt nichts, es bleibt eine zutiefst analoge Perspektive.

Hoffnungsvoller Schluss:

Aber vielleicht macht die Digitalpolitik doch noch einen Lernprozess durch. Vielleicht. Hoffentlich. Ich hab noch 20 Jahre vor mir und würde gerne meine Pensionierung im Neuland begehen.

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3 Kommentare

  1. Ich hab den Beitrag *fast* nicht gelesen, weil ich dachte, du warst in einem Eisenbahnmuseum oder so 😀 😀 Aber jetzt doch. Und aarrrghhhh es muss sooooo frustrierend sein.

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